Rethink Perspectives: ein Blick auf 2025, zwischen geopolitischen Risiken und wirtschaftlicher Normalisierung

    Frédéric Rochat, Managing Partner von Lombard Odier

    „Die Welt um uns herum ist eine Welt der Widersprüche, der übereinstimmenden und der gegensätzlichen Stimmen, eine Welt der Chancen wie auch eine Welt der Risiken“. Mit diesen Worten eröffnete Frédéric Rochat, Geschäftsführender Teilhaber bei Lombard Odier, unseren letzten Anlass Rethink Perspectives, der Anfang Oktober in Genf stattfand.

    Tatsächlich waren die letzten fünf Jahre von einem ungewöhnlichen, wirtschaftlichen Umfeld geprägt. Ursache dafür waren externe Ereignisse wie die Covid-19-Pandemie, der Krieg in der Ukraine, die Inflation und die Zinsschocks. Die Welt scheint uneinig wie selten, wases schwierig macht, fundierte Anlageentscheidungen zu treffen. Die Wirtschaft scheint mittlerweile jedoch zu einem stabileren Kurs zurückzufinden. Erstes ermutigendes Anzeichen einer möglichen Rückkehr zur Normalität: die jüngsten Zinssenkungen der Notenbanken. Zweites starkes Zeichen: das langfristige Wachstum, das es in den drei grossen Wirtschaftsblöcken – den USA, Europa und China – wieder zu geben scheint.

    Es bestehen jedoch weiterhin zahlreiche Risiken, die die Wirtschaft vom Kurs abzubringen drohen: geopolitische Unsicherheiten, das Risiko einer Rezession, strukturelle Probleme in China oder auch die US-Wahlen im November. Auf welche Anlageüberzeugungen sollte man angesichts dieser Ausgangslage setzen? Wie steuert man durch dieses unsichere, geopolitische Umfeld? Diese Fragen beantwortete Samy Chaar, Chefökonom und CIO Schweiz bei Lombard Odier: Er teilte seine Perspektiven und Analysen zu aktuellen Wirtschafts- und Marktthemen, um Anlageportfolios angesichts der momentanen Konjunktur optimal positionieren zu können.

    In der Tat sind zahlreiche Risiken bekannt. Aber können sie wirklich die Wirtschaft von ihrem Kurs abbringen?

    Wachstumsrate: nach und nach zurück zur Normalität

    „Die grossen Blöcke scheinen nach und nach zur Normalität zurückzukehren“, erklärt Samy Chaar ohne Vorrede. „Diese Rückkehr zur Normalität zeigt sich in einer US-Wirtschaft, die um etwa 2% wachsen dürfte, und einer Wachstumsrate in Europa zwischen 0,5% und 1%“. „Wir müssen damit leben, dass das Wachstum in Europa wesentlich langsamer erfolgt als in den USA“, hebt er hervor. China wiederum dürfte im aktuellen Kontext ein Wachstum zwischen 4% und 5%1 verzeichnen. Wir gehen davon aus, dass dieses langfristige Wachstum auch in den nächsten Quartalen – sogar bis weit ins Jahr 2025 – anhält.

    Es ist dabei essentiell, diese Erwartungen einer sorgfältigen Analyse der Risiken zu unterziehnen, welche diese Dynamik bremsen könnten, überprüft werden. In der Tat sind zahlreiche Risiken bekannt. Aber können sie wirklich die Wirtschaft von ihrem Kurs abbringen?

    locom/news/2024/10/20241011/RethinkPerspectives-SamyChaar_ArticleLOcomSamy Chaar, Chefökonom und CIO Schweiz von Lombard Odier

    Ein Rezessionsrisiko, das es zu vermeiden gilt

    Um diese Frage zu beantworten, „sollte man systematisch jedes einzelne Risiko prüfen und den Mechanismus dahinter nachvollziehen“, erläutert Samy Chaar und greift als erstes das Rezessionsrisiko auf. „Das Räderwerk der Rezession ist bestens bekannt: Es entsteht Stress auf Ebene der Unternehmen, der Bilanzen und Gewinn- und Verlustrechnungen“. Dies führt zu Kostensenkungen beim Personal und – in schwereren Fällen – zu Entlassungsplänen.

    Der wichtigste Indikator, um ein Rezessionsrisiko zu erkennen, sind daher Schwankungen bei den gemeldeten Erwerbslosen. In den USA sind diese Zahlen mit einer Arbeitslosenquote von 4,1%2 und rückläufigen Neumeldungen für Arbeitslosenhilfe stabil3. Das Gleiche gilt für die Eurozone4. Die Gefahr einer Rezession scheint somit gering, denn nichts deutet daraufhin, dass dieser Mechanismus in Gang ist.

    Aktuell deutet nichts darauf hin, dass der Kurs der Wirtschaft durch ein Inflationsrisiko beeinträchtigt werden könnte

    Deutet die Inflation auf eine erneute wirtschaftliche „Überhitzung“ hin?

    „ Das Fortbestehen der Inflation im Wirtschaftssystem kommt nicht von selbst: Ein Mechanismus löst sie aus“, erläutert Samy Chaar und fügt hinzu: „Diese Dynamik hängt unmittelbar mit dem Lohnwachstum zusammen“. Sie ereignet sich in einem Zyklus, in dem Arbeitnehmende ihre Stellen zugunsten besser bezahlter Arbeitsplätze aufgeben. Das führt zu einem höheren Konsum und löst einen erhöhten Druck auf Waren und Dienstleistungen aus.

    Was lässt sich heute feststellen? „Wir beobachten die Lohndynamik in Europa und den USA sehr genau. Aktuell liegt das Lohnwachstum fast in der Norm. Insbesondere in den USA ist die Zahl der Kündigungen durch die Arbeitnehmer selbst stark rückläufig und nähert sich langsam dem Niveau von 2017 und 2018“5. Aktuell deutet nichts darauf hin, dass der Kurs der Wirtschaft durch ein Inflationsrisiko beeinträchtigt werden könnte. Zu prüfen sind jedoch noch die Auswirkungen anderer Risiken auf die Wirtschaft.

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    Die Fabrik der Welt vor erheblichen strukturellen Problemen

    „China mit seiner abflauenden Konjunktur steht heute vor zahlreichen strukturellen Herausforderungen – seien es demografische, globalisierungsbedingte oder schuldenbezogene Probleme“, so Samy Chaar. Im September 2024 lag die kombinierte öffentliche und private Verschuldung bei mehr als 300% des BIP6. Kann das Land angesichts dieser fortbestehenden Risiken und trotz des von Beijing Ende September vorgestellten umfangreichen Konjunkturpakets die Weltwirtschaft von ihrem Kurs abbringen? Die Frage stellt sich – aber nichts hier sicher zu sein.

    Der chinesische Binnenkonsum läuft „auf Reserve“. Das liegt vor allem an den Verlusten, die Sparende durch den Zusammenbruch des Immobilienmarktes erlitten, der durch den Bankrott des Giganten Evergrande ausgelöst wurde7. Dieses Umfeld „veranlasst die chinesischen Haushalte, zu viel zu sparen“. Dies wiederum führt zu einer Konsumzurückhaltung, die das Wachstum des Landes beeinträchtigt. Der wichtigste Indikator für den Einfluss Chinas auf den Aufwärtstrend der Weltwirtschaft ist jedoch nicht der Binnenkonsum, sondern die Industrieproduktion. Hier jedoch erfreut sich die „Fabrik der Welt“ einer stählernen Gesundheit8.

    „Die chinesische Produktion wird in den strategischsten Industriezweigen subventioniert und exportiert weiterhin erschwingliche Waren. China trägt also eher zum aktuellen Aufwärtstrend der Weltwirtschaft bei, als ihn zu beeinträchtigen“, so Samy Chaar. Der Wirtschaftsblock China scheint somit nicht die momentanen Wirtschaftsbedingungen zu erschüttern, die für die kommenden Monate weiterhin relativ stabil sind.

    Zwar beeinträchtigen die Konflikte in der Ukraine und im Nahen Osten bestimmte Branchen wie insbesondere Energie und Landwirtschaft. Die Unternehmen und Länder haben sich jedoch angepasst

    Geopolitik: Die Eskalation der Konflikte schürt Unsicherheiten

    Zwei Krisenherde verkörpern aktuell geopolitische Risiken: Einerseits ist dies Osteuropa mit dem andauernden Krieg in der Ukraine. Wie aber lassen sich die Auswirkungen dieser Konflikte aus rein wirtschaftlicher und finanzieller Sicht messen? „Wir sehen zwei Kanäle, über die die Geopolitik auf die Realwirtschaft und die Märkte übertragen wird“, erläutert Samy Chaar.

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    Der erste Kanal betrifft die Lieferketten in der Produktion und im Export von Waren und Dienstleistungen: Sind sie unter Spannung oder nicht mehr funktionsfähig? Zwar beeinträchtigen die Konflikte in der Ukraine und im Nahen Osten bestimmte Branchen wie insbesondere Energie und Landwirtschaft. Die Unternehmen und Länder haben sich jedoch angepasst. Davon zeugt der Global Supply Chain Pressure Index (GSCPI), ein Mass für den Druck in den weltweiten Lieferketten.9 Er ist jetzt wieder auf normalem Niveau und fast bei den Werten vor der Pandemie. „Die Lieferketten funktionieren aktuell sehr gut: Man kann Waren in hohen Mengen produzieren und sie vom Hersteller zum Verbraucher exportieren“, erläutert Samy Chaar.

    Das ist eine wichtige Lehre, die aus diesen Konflikten zu ziehen ist: In Europa und den USA erfolgten erhebliche Investitionen, um sich vor Engpässen zu schützen

    Parallel ist ein zweiter Kanal zu prüfen: der Energiemarkt – und insbesondere der Brent-Ölpreis. Die Schwankungen dieses Indikators korrelieren unmittelbar mit den geopolitischen Spannungen. Was zeigt uns der Ölpreis aktuell an? „Der Kurs steigt leicht, bleibt jedoch zwischen USD 75 und USD 80 pro Barrel“. Er ist damit „weit entfernt vom Maximalpreis von USD 124, als Russland die Ukraine angriff“.

    Festzustellen ist, dass sich die grossen Wirtschaftsblocks neu aufgestellt haben, um ihre Energieversorgung und Lieferketten sicherzustellen. „Das ist eine wichtige Lehre, die aus diesen Konflikten zu ziehen ist: In Europa und den USA erfolgten erhebliche Investitionen, um sich vor Engpässen zu schützen“, erläutert der Chefökonom von Lombard Odier.

    Daher scheint das aktuelle geopolitische Risiko „unsere Wirtschaft nicht von ihrem positiven Kurs abbringen zu können“

    Die Amerikaner tätigten in den letzten Jahren ambitionierte Subventionen, die die Binnenwirtschaft beleben sollten: Der IRA oder Inflation Reduction Act etwa sieht USD 369 Mrd. an Subventionen für saubere Technologien vor. Voraussetzung ist, dass diese in den USA hergestellt werden. Der Chips Act steht dabei an erster Stelle10. Europa wiederum führte den Grünen Deal11 ein, um den ökologischen Wandel des Alten Kontinents zu finanzieren und seine Energiesouveränität zu stärken. Daher scheint das aktuelle geopolitische Risiko „unsere Wirtschaft nicht von ihrem positiven Kurs abbringen zu können“. Es wirkt sich weniger als vermutet auf die Realwirtschaft und die Finanzmärkte aus.

    US-Wahlen: ungewisse Folgen

    Unter den zahlreichen anderen potenziellen Risiken zählen die US-Wahlen im November zu den grossen. Das Ergebnis der Entscheidung zwischen der Demokratin Kamala Harris und dem Republikaner Donald Trump könnte bei einer erneuten Wahl des 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten die Weltwirtschaft schwächen.

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    Bei einer erneuten Wahl plant Trump deutlich höhere Zölle auf Importe und zielt dabei besonders auf China ab. Vor diesem Hintergrund hätte seine Politik eine stärkere Inflation zur Folge. Dieses Szenario steht jedoch bei der Positionierung von Portfolios für uns nicht im Mittelpunkt, denn: „Es müssen zahlreiche Bedingungen erfüllt sein, damit es zu einer Überhitzung der Wirtschaft kommt“, erläutert Samy Chaar. Donald Trump müsste nicht nur die Wahl gewinnen. Um sein Wahlprogramm umsetzen zu können, ist er auf die Unterstützung beider Kongresskammern – Repräsentantenhaus und Senat – angewiesen. Das jedoch erscheint momentan ungewiss12.

    „Eine Konjunkturerholung, mehr Produktivität, eine sich normalisierende Inflation und Notenbanken, die die Zinsen senken,“ haben ein relativ gesundes Wirtschaftsumfeld zur Folge

    Ein anlagenfreundliches Wirtschaftsumfeld

    Welches Fazit lässt sich für die Positionierung von Portfolios ziehen? „Eine Konjunkturerholung, mehr Produktivität, eine sich normalisierende Inflation und Notenbanken, die die Zinsen senken,“ haben ein relativ gesundes Wirtschaftsumfeld zur Folge – trotz der genannten Risiken. „Diese Risiken sind momentan nicht schwerwiegend genug, um das Wirtschaftsumfeld zu beeinträchtigen“, erläutert der Chefökonom und CIO Schweiz von Lombard Odier.

    Wir erachten das gegenwärtige Umfeld daher als anlagenfreundlich. Gleichzeitig haben wir jedoch die Risiken im Blick und setzen daher auf eine ausgewogene Allokation zwischen Aktien und Anleihen. „So können wir ein robustes Portfolio aufbauen, wobei wir als dritten Aspekt bei steigender Volatilität Vermögenswerte wie Gold oder den Schweizer Franken, als sichere Häfen, in unsere Strategie aufnehmen“, erläutert Samy Chaar. „Mit einer solchen Allokation erhalten wir ein widerstandsfähiges Portfolio“, so sein Fazit.

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