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Warten auf Klarheit über die künftige italienische Regierung
Lombard Odier Private Bank
Kernpunkte
- Es wird erwartet, dass Italien eine rechte Koalitionsregierung unter Führung der Partei „Fratelli d’Italia“ von Giorgia Meloni wählt und Meloni als Premierministerin auf Mario Draghi folgt
- Energie ist eine der Hauptprioritäten der neuen Regierung. Italien hat seine Abhängigkeit von russischem Gas verringert und sich verpflichtet, EUR 50 Mrd. auszugeben, um die Auswirkungen der Energiekrise auf Verbraucher und Unternehmen abzufedern
- Steigende EZB-Zinsen werden die italienischen Schulden langfristig belasten. Vieles hängt davon ab, ob die neue Regierung bereit ist, einen pragmatischen Ansatz zu verfolgen, um die Kriterien für geldpolitische Unterstützung zu erfüllen
- Angesichts der Ungewissheit über die Fiskalpolitik der neuen Regierung und die Besetzung wichtiger Posten bleiben wir gegenüber italienischen Staatsanleihen vorsichtig.
Am 25. September bestimmen die italienischen Wählerinnen und Wähler eine neue Regierung. Aus der Wahl, die durch den Rücktritt von Ministerpräsident Mario Draghi ausgelöst worden ist, wird voraussichtlich eine rechte Koalitionsregierung hervorgehen. Diese muss die sich verlangsamende Wirtschaft wieder in Gang bringen sowie die hohe Inflation und die Energiekrise bekämpfen. Es steht viel auf dem Spiel. Solange nicht feststeht, wer für die Wirtschaft und die Finanzen des Landes zuständig sein wird, bleiben wir gegenüber italienischen Staatsanleihen vorsichtig.
Mario Draghi hat das Amt als Regierungschef im Februar 2021 mit dem Auftrag angetreten, die Covid-Impfprogramme zu verwalten und die Verteilung der Mittel aus dem EU-Aufbauplan zu überwachen. Draghi, ehemaliger Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), ist diesen Juli als Ministerpräsident zurückgetreten und führt bis zur Wahl eine Übergangsregierung. Den Wählerumfragen zufolge wird Giorgia Meloni auf Draghi folgen. Meloni steht seit 2014 den „Fratelli d'Italia“ (Brüder Italiens) vor, einer Partei mit rechtsextremen Wurzeln.
Italien, die drittgrösste Volkswirtschaft Europas, kämpft wie seine Nachbarn mit einer hohen Inflation, rekordhohen Energiepreisen und einer Verlangsamung des Wachstums – alles Entwicklungen, die mit dem Krieg in der Ukraine zusammenhängen. In Italien stiegen die Verbraucherpreise im Juli um 8,4% im Vergleich zum Vorjahresmonat. Laut Eurostat, dem statistischen Amt der EU, betrug die Inflation in der Eurozone im August annualisiert 9,1%, verglichen mit 8,9% im Juli. Der Internationale Währungsfonds (IWF) schätzte im August, dass die italienische Wirtschaft 2022 um 3% wachsen und sich 2023 auf 0,7% verlangsamten könnte. Die Inflation, Versorgungsengpässe, die Energiekrise und politische Unsicherheiten könnten weiteren Schaden verursachen. Italiens Wirtschaft ist immer noch kleiner als vor der grossen Finanzkrise. Mit einem Rekordwert von 155,3% im Jahr 2020 weist Italien die weltweit zweithöchste Staatsverschuldung im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) auf. Für 2022 erwarten wir, dass diese Quote bei rund 148% liegen wird. Dies wäre in der G20 die zweithöchste Quote nach Japan, wenn man die fiskalische Unterstützung der Wirtschaft und der Haushalte berücksichtigt.
Italiens Handels- und Leistungsbilanz ist trotz höherer Energiepreise weiterhin leicht positiv, sodass die Wirtschaft nicht von ausländischen Direktinvestitionen abhängig ist. Doch Italien weist eine geringere Produktivität auf als die grössten EU-Volkswirtschaften Deutschland und Frankreich. Das Land hat weniger in seine digitale Infrastruktur investiert und neue Technologien nur langsam eingeführt. Die Regierung hat auf die Anfälligkeit Italiens bezüglich Klimawandel hingewiesen, insbesondere mit Blick auf den steigenden Meeresspiegel, Hitzewellen, Dürren und Erdrutsche. Das Land steht zudem vor einer demografischen Herausforderung: Mehr als 23% der Bevölkerung sind über 65 Jahre alt – der höchste Anteil in der EU.
Weniger Abhängigkeit, fiskalische Verpflichtungen
Die grösste unmittelbare Bedrohung für das Wirtschaftswachstum ist die Energie. Nach Ungarn ist Italien innerhalb der EU von der Verknappung von Erdgas aus Russland am stärksten betroffen. Als Reaktion darauf hat Italien seine Gasvorräte bis Anfang September auf über 83% der Kapazität aufgefüllt und seine Abhängigkeit vom Import russischer Energie verringert. Die Lieferungen von russischem Erdgas sind von 43% des landesweiten Totals im Jahr 2020 auf heute rund 25% gesunken.
2022 hat Italien für Unternehmen und Verbraucher bereits ein Massnahmenpaket im Wert von EUR 50 Mrd. geschnürt, um die Auswirkungen steigender Energiepreise abzufedern. Weitere EUR 13,5 Mrd. muss das Parlament noch genehmigen. Eine Sondergewinnsteuer für Energieunternehmen, deren Wirkung auf EUR 10 Mrd. geschätzt worden ist, hat bisher nur EUR 2 Mrd. eingebracht. Die für Italien vorgesehenen Gesamtausgaben aus dem Aufbauplan „NextGenerationEU“ zur Unterstützung der EU-Mitgliedstaaten nach der Pandemie belaufen sich auf EUR 205 Mrd. Das ist der grösste Anteil an Zuweisungen der EU im Anschluss an die Pandemie. Zusammengefasst ergibt dies ein beträchtliches Unterstützungspaket, insbesondere im Vergleich zu anderen Ländern.
Im besten Szenario – einer koordinierten EU-weiten Reaktion auf die Energiekrise – hätte nach Schätzungen des IWF ein Ende der Importe von russischem Gas über zwölf Monate einen Rückgang des italienischen BIP um 0,6% zur Folge. Im schlechtesten Szenario (fehlende Koordinierung, schwache politische Unterstützung) könnte die Wirtschaft nach derselben Schätzung innerhalb eines Jahres um 5,7% schrumpfen. Die von der derzeitigen italienischen Regierung bereits zugesagten fiskalischen Ausgaben würden die wirtschaftlichen Auswirkungen dieses Worst-Case-Szenarios unseres Erachtens auf -2,7% des BIP reduzieren.
Unterstützung der Eurozone
Wir erwarten, dass der Leitzins der EZB im Zuge der Energiekrise und der Wachstumsabschwächung bis Ende 2022 auf 1,5% steigt. Mit der Zeit werden sich die höheren Zinsen auf die bedeutende Staatsverschuldung Italiens auswirken. EUR 285 Mrd. an Schulden des Landes werden vor Ende 2023 fällig, weitere EUR 228 Mrd. im Jahr 2024.
Anfang August senkte Moody’s Investors Service den Ausblick für Italiens Staatsschulden von „stabil“ auf „negativ“ und beliess das Rating bei Baa3. Als Gründe nannte die Agentur die Wachstumsverlangsamung, steigende Kosten für die Kapitalaufnahme und auf politischer Ebene eine „potenziell schwächere Haushaltsdisziplin“.
Die Unsicherheit über die Energieversorgung und insbesondere die Gaspreise haben die Anleiherenditen in der gesamten EU ansteigen lassen. Die Renditedifferenz (Spread) zwischen zehnjährigen Anleihen Italiens und Deutschlands hat sich auf 225 Basispunkte ausgeweitet. Die Rendite zehnjähriger deutscher Bundesanleihen beträgt 1,76%, während zehnjährige italienische Staatsanleihen jetzt mit mehr als 4% auf dem höchsten Stand seit neun Jahren rentieren. Dieser Spread ist immer noch halb so gross wie die Renditedifferenz während der europäischen Schuldenkrise vor einem Jahrzehnt.
Im Juli 2021 schuf die EU ein Programm für die Ausgabe von Anleihen zu niedrigen Zinsen bzw. für die Schuldenvergemeinschaftung. Ziel war, die Kreditwürdigkeit der Mitgliedstaaten zu verbessern und den Euro zu stützen. Im Rahmen des Programms kann die Europäische Kommission mithilfe der EZB im Namen der Mitgliedstaaten Schuldtitel ausgeben. Im Juni 2022 ging die EZB noch einen Schritt weiter und führte ein „Anti-Fragmentierungs-“ oder „Transmissionsschutzinstrument“ (TPI) ein. Ziel des Instruments ist, ein Auseinanderbrechen der Eurozone zu verhindern, indem sichergestellt wird, dass die Geldpolitik in jeder Volkswirtschaft wirksam ist. Das TPI ergänzt die bestehenden Instrumente der EZB zum Ankauf italienischer Anleihen, um eine Ausweitung der Spreads zu verhindern. Die Märkte haben das TPI als glaubwürdig eingestuft und damit einige unmittelbare Risiken für Italien beseitigt.
Pragmatische Politik
Es wird erwartet, dass aus den Wahlen eine Koalition aus drei Rechtsparteien hervorgeht. Die Regierung würde dann aus den Fratelli d'Italia (FdI), der Lega Nord von Matteo Salvini und der von Silvio Berlusconi geführten Forza Italia bestehen. Den Prognosen zufolge würden die drei Parteien zusammen etwa 45% der Stimmen auf sich vereinen. Dies würde einen Vorsprung von rund 20 Prozentpunkten gegenüber Mitte-links und eine Mehrheit in beiden Parlamentskammern bedeuten.
Das Gleichgewicht zwischen den drei genannten Parteien wird für das Land entscheidend sein, da sie sehr unterschiedliche Positionen zu Themen wie der Haushaltskonsolidierung sowie der Haltung gegenüber der EU und der NATO vertreten. Im Szenario einer breiten Mehrheit für die FdI dürfte die Koalition schnell eine Regierung bilden, wobei es im Laufe der Zeit zu Konflikten über die Europapolitik kommen könnte. In dem weniger wahrscheinlichen Fall, dass Giorgia Meloni mit einer knappen Mehrheit gewinnt, würde die Regierungsbildung länger dauern.
Unabhängig von der genauen Zusammensetzung der nächsten Regierung wird diese mit der Haushaltskonsolidierung starten, welche die Regierung Draghi eingeleitet hat. Bislang konnten die Massnahmen zur Eindämmung der Energiekrise ohne zusätzliche Defizite und mit schrittweise steigenden Steuereinnahmen finanziert werden. Die Rechtskoalition hat bis jetzt nicht im Detail dargelegt, wie sie ihre Vorschläge finanzieren will – etwa die Erhöhung der Mindestrenten, die wiederum die Haushaltskonsolidierung bremsen könnte.
Da ein so grosser Teil der fiskalischen Unterstützung von der EU abhängt, dürfte die künftige italienische Regierung einen pragmatischen Ansatz für die Beziehungen mit der Exekutive der EU wählen. Dies kann eine Abkehr von der historischen Euroskepsis der extremen Rechten mit einschliessen.
Kurzfristig ist die Schuldentragfähigkeit dank der längeren Laufzeit der Staatsverschuldung Italiens kein Risiko, aber längerfristig stellt der Zinsanstieg eine Belastung dar. Entscheidend wird sein, ob das TPI der EZB in Anspruch genommen werden kann und ob die Regierung bereit ist, die Kriterien des Programms einzuhalten. Die Spreads italienischer Staatsanleihen gegenüber deutschen Bundesanleihen werden daher sehr empfindlich auf diese Faktoren reagieren und könnten in den kommenden Wochen auf die Probe gestellt werden.
Wenn sich die Wirtschaftspolitik der Regierung mehr auf den Schutz kleiner italienischer Unternehmen konzentriert als auf die Unterstützung von Investments in grössere Branchen, dürfte dies kaum zur Förderung ausländischer Direktinvestitionen beitragen. Noch fehlt es an Klarheit über die fiskalischen Ambitionen der künftigen italienischen Regierung und darüber, wer die Verantwortung für die Wirtschafts- und Finanzpolitik übernehmen wird. Daher bleiben wir gegenüber italienischen Staatsanleihen vorsichtig.
Wichtige Hinweise.
Die vorliegende Marketingmitteilung wurde von der Bank Lombard Odier & Co AG (nachstehend “Lombard Odier”) herausgegeben. Sie ist weder für die Abgabe, Veröffentlichung oder Verwendung in Rechtsordnungen bestimmt, in denen eine solche Abgabe, Veröffentlichung oder Verwendung rechtswidrig ist, noch richtet sie sich an Personen oder Rechtsstrukturen, an die eine entsprechende
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