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Aufs Gas treten: eine schwerere Krise in Europa vermeiden
Lombard Odier Private Bank
Kernpunkte
- Europa hat in Eile die Gasvorräte aufgestockt, während die Lieferungen aus Russland zurückgehen. Die Speicher sind zu mehr als 80% gefüllt, was für etwa zwei Monate reicht und über dem saisonalen Ziel liegt
- Dies hat seinen Preis, denn die Kosten bewegen sich auf Rekordniveau. Die EU-Minister haben zu koordinierten Massnahmen aufgerufen, welche die Auswirkungen auf das BIP weitgehend bestimmen werden
- Angesichts der sich verlangsamenden globalen Wirtschaftstätigkeit hat die OPEC+ die Ölproduktion gedrosselt. Wir erwarten, dass die Rohölpreise zwischen USD 90 und 100 pro Barrel verharren
- Da die hohen Energiepreise die Inflation weiter anheizen, sehen wir die Zinsen in der Eurozone per Ende 2022 auf einem Höchststand von 1,5% bis 2%.
Kann Europa diesen Winter strenge Energierationierungen und Stromausfälle vermeiden? Alternativen zu Gasimporten aus Russland und eine nachlassende Nachfrage sorgen in Kombination dafür, dass die Speicher gut gefüllt sind. Diese Sicherheitsmarge hat jedoch ihren Preis für Regierungen sowie Verbraucherinnen und Verbraucher. Auch bedeutet sie längere Laufzeiten für Kohlekraftwerke und Atomreaktoren. Vieles hängt zudem davon ab, wie kalt der Winter in Europa wird.
Europa steht vor grossen Herausforderungen im Energiebereich. Ende August hat Russland die Gaslieferungen durch die Pipeline Nord Stream 1 gestoppt. Die europäischen Regierungen erwarten, dass die Pipeline auf unbestimmte Zeit geschlossen bleibt. Im Mai hat Russland die Gaslieferungen durch Polen eingestellt, und eine weitere Leitung durch die Ukraine, die Sojus-Pipeline, ist nur zu etwa 40% ausgelastet. Zudem hat die Trockenheit diesen Sommer die Stromerzeugung aus Wasserkraft beeinträchtigt, und Schwierigkeiten bei der Wartung von Atomreaktoren in Frankreich haben Europas Energieprobleme noch vergrössert.
Allerdings hat sich die europäische Energiepolitik seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine gewandelt. 2021 importierte die Europäische Union rund 155 Mrd. Kubikmeter Erdgas, was 24% ihres Energiebedarfs entsprach, und etwa 40% davon stammten aus Russland. Mittlerweile hat die EU ihre Einfuhren von Flüssigerdgas (LNG) innerhalb eines Jahres fast verdoppelt, und die Abhängigkeit von Russland ist noch halb so gross. Die EU plant, die Gasimporte aus Russland bis Ende 2022 auf null herunterzufahren.
Zurzeit verfügt die EU über Vorräte in Höhe von mehr als 82% der Kapazität. Dies entspricht dem Verbrauch von zwei Monaten und liegt über dem per 1. November angestrebten Ziel von 85%. Dieser Vorrat hat seinen Preis. Die Kosten pro Megawattstunde (MWh) Gas für Terminkontrakte in Deutschland und Frankreich sind mehr als fünfmal so hoch wie vor einem Jahr (siehe Grafik).
Auch wenn die Vorräte ausreichen, um den Bedarf für diesen Winter zu decken, geht die Nutzung der Vorräte mit geringeren Reserven Anfang 2023/2024 einher. Die Versorgungsprobleme könnten sich somit in die Zukunft verschieben. In einem durchschnittlichen Winter stammen 30% des Gasverbrauchs in der Region aus den Vorräten. Seit 2014 hat die EU unter besseren Versorgungsbedingungen, als wir sie in den kommenden Monaten erwarten können, zwischen 46 und 71 Mrd. Kubikmeter des gespeicherten Gases verbraucht. Dies entspricht 18% bis 54% der Vorräte. Um die schlimmsten Auswirkungen in Form von Rationierung und Mangel zu vermeiden, braucht es warmes Wetter, die Umstellung von Gas auf andere Energieträger und ein Preisniveau, das dafür sorgt, dass weiteres LNG nach Europa geliefert wird.
Vorbereitung auf das Schlimmste
Dass Gazprom die Gaszufuhr durch Nord Stream 1 ausgesetzt hat, ist ein zusätzlicher Schock für die Eurozone. Letztere steht bereits vor einer Belastungsprobe, da sich die Konjunktur verlangsamt und die Verbraucher die Auswirkungen steigender Energiepreise verdauen müssen. Massnahmen zur Energieeinsparung werden Sekundäreffekte auf die Wirtschaft haben. Sie werden die Nachfrage der Industrie dämpfen, sodass sich beispielsweise die Aluminiumverhüttung und die Düngemittelproduktion weiter abschwächen.
Die Europäische Kommission, die Exekutive der EU, hat eine Verordnung zur Senkung des Gasverbrauchs um 15% bis März 2023 erlassen. Zugleich haben die preissensiblen europäischen Branchen ihre Nachfrage bereits um rund 30% gedrosselt. Die Produzenten ergreifen Massnahmen, um Energie zu sparen. Ölraffinerien sind dazu übergegangen, aus Öl gewonnenes Propan anstelle von aus Gas erzeugtem Wasserstoff zu verwenden. Die Regierungen der Niederlande, Deutschlands, Frankreichs und Italiens arbeiten darauf hin, schwimmende LNG-Terminals zu mieten. Diese wandeln Ladungen in Gas um, das durch Pipelines gepumpt werden kann. Zwei solche Schiffe haben letzte Woche laut Bloomberg im Rahmen eines Fünfjahresvertrags in einem niederländischen Hafen festgemacht.
Die Effizienz der EU-Massnahmen wird jedoch von der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten und der Bereitschaft zur Koordinierung der Lieferungen abhängen. In Gesprächen über den Austausch von Lieferungen sind bisher keine Einigungen erzielt worden. Laut Medienberichten hat sich die deutsche Regierung darüber beklagt, dass die Nachbarländer Belgien, Luxemburg, die Niederlande und Polen Verhandlungen ablehnen.
Berechnung der Kosten
Deutschland hat zwar fiskalische Unterstützung in Höhe von rund 2,7% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zugesagt, was beträchtlich ist. Doch die Summe verblasst im Vergleich zu den 10% des BIP, die das Land zur Unterstützung seiner Wirtschaft während der Pandemie aufgewendet hat. Die EU-Energieminister sind sich grundsätzlich einig, dass das System zur Festsetzung der Strompreise in der Region überarbeitet werden muss. Ziel ist, Angebot und Nachfrage besser in Einklang zu bringen, ohne sauberere Energiequellen zu benachteiligen. Die Vorschläge umfassen Stromeinsparungen, das Abschöpfen übermässiger Gewinne sowie staatliche Beihilfen für Versorger.
Derzeit erwarten wir für die Eurozone im Jahr 2023 einen BIP-Rückgang von 1%. Vieles hängt jedoch davon ab, wie streng der kommende Winter wird und wie einfach die Gasvorräte wieder aufgefüllt werden können. Einigen Schätzungen zufolge könnte ein sehr kalter Winter zu einer Gasnachfrage führen, die eineinhalbmal so hoch ist wie in einem milden Winter.
Wenn es der EU gelingt, die LNG-Lieferungen zu koordinieren, kohärent vorzugehen und gleichzeitig die Haushalte zu unterstützen, könnten die Auswirkungen auf das BIP unserer Einschätzung nach zwischen -1,1% in Ungarn und -0,2% in Frankreich liegen. Ein uneinheitlicher Ansatz und fehlende fiskalische Unterstützung könnten die Folgen dagegen dramatisch verstärken (siehe Grafik).
Eine weitere Variable ist der Wettbewerb um LNG-Lieferungen mit den asiatischen Märkten, insbesondere mit China. Im Gegensatz zu Rohöl ist der Erdgasmarkt nicht global. Der grösste Teil der Infrastruktur für die Lieferung von russischem Gas ist weiterhin nach Westen ausgerichtet. Damit sind die Mengen begrenzt, die Russland nach China liefern kann. Entsprechend stehen Asien und die EU in Bezug auf LNG-Lieferungen nach wie vor in Konkurrenz. Die chinesischen Erdgasimporte sind seit 2019 um 7 Mrd. Kubikmeter pro Jahr gestiegen.
Deckelung des Ölpreises
Die Energieschocks sind nicht auf Erdgas beschränkt. Parallel zu den Bemühungen, die an Russland entrichteten Zahlungen für Gas zu drosseln, haben sich die G7-Länder diesen Monat darauf geeinigt, den Preis für russisches Öl zu deckeln. Laut Erklärung der G7 soll die Massnahme dafür sorgen, dass russisches Öl weiterhin auf die globalen Märkte gelangt, und zugleich die „Fähigkeit Russlands, seinen Angriffskrieg zu finanzieren“, einschränken.
Die Volkswirtschaften stellen sich auf die Folgen von Rezessionen und die Unsicherheit über das chinesische Wirtschaftswachstum ein. Vor diesem Hintergrund hat die Organisation der Erdöl exportierenden Länder plus Russland (OPEC+) letzte Woche beschlossen, die Produktion um 100’000 Barrel pro Tag oder etwa 0,1% der weltweiten Nachfrage zu drosseln. Das Kartell ist bestrebt, eine gewisse Kapazitätsreserve zu wahren und die Ölpreise bei etwa USD 90 bis 100 pro Barrel zu halten. Auf diesem Niveau dürften die Preise unserer Meinung nach bis Ende des Jahres verharren, bevor sie Anfang 2023 fallen.
Geldpolitische Massnahmen
Natürlich treiben auch die höheren Kosten für importierte Energie die Inflation in die Höhe. Die Gesamtinflation in der Eurozone betrug im August gegenüber dem Vorjahr 9,1%. Nach Angaben der Europäischen Kommission entfielen schätzungsweise 38% des Preisanstiegs auf die Energiekosten. Die Schwäche des Euro gegenüber dem US-Dollar verschärft den inflationären Effekt der Importe. Die Gemeinschaftswährung hat seit Januar 2021 gegenüber dem Dollar fast 18% an Wert eingebüsst.
Letzte Woche reagierte die Europäische Zentralbank (EZB) mit einer aggressiven Straffung des Leitzinses um rekordhohe 75 Basispunkte. Sie deutete an, dass es in den kommenden Monaten zu weiteren Erhöhungen kommen wird. Allerdings ging sie nicht so weit, eine Rezession zu prognostizieren. Wir erwarten, dass die Zinsen in der Eurozone bis Ende 2022 einen Höchststand von 1,5% bis 2% erreichen und 2023 unverändert bleiben. Des Weiteren rechnen wir für 2023 mit einem Wirtschaftswachstum von 0,4% in der Region.
Wichtige Hinweise.
Die vorliegende Marketingmitteilung wurde von der Bank Lombard Odier & Co AG (nachstehend “Lombard Odier”) herausgegeben. Sie ist weder für die Abgabe, Veröffentlichung oder Verwendung in Rechtsordnungen bestimmt, in denen eine solche Abgabe, Veröffentlichung oder Verwendung rechtswidrig ist, noch richtet sie sich an Personen oder Rechtsstrukturen, an die eine entsprechende
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