Am 11. März 2011 setzte ein Erdbeben rund 70 Kilometer vor der Nordostküste der japanischen Insel Honshu gewaltige Mengen an seismischer Energie frei. Der Boden des Pazifischen Ozeans hob sich ruckartig an und erzeugte dadurch eine zerstörerische Flutwelle, die die Region Tōhoku traf. Das Erdbeben und der darauf folgende Tsunami zählen zu den schwersten Naturkatastrophen in der Geschichte Japans. Die Bewohner der Region und Nothelfer versuchten, irgendwie mit dem wenigen Strom auszukommen, den das stark beschädigte Stromnetz noch lieferte. Da erschien ganz unerwartet ein Retter in der Not.
In der Region waren damals mehr als 4,8 Millionen Haushalte von der Stromversorgung abgeschnitten. Helfer erkannten jedoch rasch, dass die Batterien von Elektrofahrzeugen (Electric Vehicles, EVs) wie dem Nissan Leaf in den Trümmern eine wichtige Stromquelle sein konnten. Nissan schickte als Hilfsmassnahme sogar 66 Leafs in die am stärksten betroffenen Gebiete, wo sie bei nächtlichen Rettungsmassnahmen Strom für die Beleuchtung lieferten. Ausserdem sorgten sie dafür, dass Kommunikationsgeräte weiter genutzt werden konnten.1
Die Nutzung von EVs als Notfallstromquelle war nach der Katastrophe eine improvisierte Lösung in kleinem Massstab, die aus der Not geboren war. Doch sie war so wirkungsvoll, dass die Entwicklung der Technologie einen Schub erhielt und aus dieser Behelfslösung eine bei der Konstruktion bereits vorgesehene benutzerfreundliche Funktion wurde. Im folgenden Jahr stellte Nissan sein Stromversorgungssystem „LEAF-to-Home“ vor.2 Im Jahr 2014 veröffentlichte CHAdeMO – der japanische EV-Ladestandard – sein Protokoll für die „Vehicle-to-Grid-“(V2G-)Integration. EVs mit CHAdeMO-Ladeschnittstelle können dadurch Gebäude mit Strom versorgen oder sogar Strom ins Netz einspeisen.3
Die V2G-Technologie wird heute im grossen Massstab entwickelt und dürfte eine bedeutende Rolle bei der Energiewende spielen.
Entdecken Sie die V2G-Technologie im untenstehenden Video:
Von der Nothilfe zur nützlichen Komfortfunktion
Die Energiemenge, die wir aus erneuerbaren Energiequellen wie Windkraft und Solarenergie gewinnen können, hängt häufig vom Wetter ab. Doch die Wetterbedingungen sind nicht immer dann am besten, wenn der Energiebedarf hoch ist. Wenn die Energiewende die Wirtschaft elektrifiziert und dadurch die Nutzung von erneuerbaren Energiequellen steigt, werden Batterien immer wichtiger für die Belastbarkeit der Stromnetze. Sie speichern die in Zeiten mit geringem Bedarf produzierte Energie und speisen sie bei Bedarfsspitzen ins Netz ein, um Stromdefizite auszugleichen.
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Bloomberg New Energy Finance erwartet, dass die Speicherkapazität von Batterien in den weltweiten Stromnetzen im Jahr 2030 rund 2’086 GWh erreichen wird. Das würde genügen, um den jährlichen Strombedarf von fast 700’000 europäischen Durchschnittshaushalten zu decken.4 Diese Zahl erscheint jedoch klein im Vergleich zu den zukünftig von EVs bereitgestellten Kapazitäten. Nach unseren Schätzungen wird im Jahr 2030 mehr als jedes zweite verkaufte Neufahrzeug ein EV sein. Zusammen genommen würden diese Fahrzeuge Batteriekapazitäten von mehr als 1’878 GWh bereitstellen.5 Die V2G-Technologie bietet daher eine Möglichkeit, die Speicherkapazität des Stromnetzes deutlich zu erhöhen. Auf diese Weise unterstützt sie die Verbreitung erneuerbarer Energien und sichert die Belastbarkeit des Stromnetzes.
2021 speiste der Stromversorger National Grid in Zeiten des Spitzenbedarfs über 50 Stunden lang Strom aus einem elektrischen Schulbus ins Netz von Massachusetts ein
Das Beispiel der elektrischen Schulbusse in den USA zeigt, wie das funktionieren könnte. Diese Busse sind gewöhnlich zu festen Zeiten in Betrieb und werden in Zeiten mit hoher Stromnachfrage kaum genutzt. Daher sind sie ein besonders gutes Testobjekt für die V2G-Technologie. 2021 speiste der Stromversorger National Grid in Zeiten des Spitzenbedarfs über 50 Stunden lang Strom aus einem elektrischen Schulbus ins Netz von Massachusetts ein. Letztes Jahr gaben bei einem Pilotprojekt im Schulbezirk White Plains fünf Schulbusse erfolgreich Strom an das Netz im Bundesstaat New York ab. Das Netz verteilte den Strom daraufhin direkt an seine Kunden weiter. Mindestens 15 weitere Energieversorger in 14 Bundesstaaten haben zugesagt, die V2G-Technologie mit elektrischen Schulbussen zu testen. Unterstützung erhält die Technologie von der Electric School Bus Initiative des World Resources Institute (WRI). Diese Initiative will mit weiteren Impulsen dafür sorgen, dass bis 2030 jeder Schulbus in den USA elektrifiziert ist. Das würde den Weg für die breitere Einführung der Technologie ebnen.6
Die Lücke zwischen Fahrzeug (Vehicle, V) und Netz (Grid, G) schliessen
Es gibt drei Hauptarten von V2G:
- Unidirektionales V2G (oder V1G)– Hierbei fliesst der Strom nur vom Netz in das EV. Intelligente Technologien verlegen das Laden aber automatisch bevorzugt in Zeiten mit normaler oder geringer Stromnachfrage. Dabei gewährleisten sie, dass das Fahrzeug stets ausreichend geladen ist, wenn es benötigt wird.
- Bidirektionales lokales V2G– Hierbei können EVs bei Ausfällen im Stromnetz oder wenn der Strom aus dem Netz teurer ist, Strom für Gebäude oder andere lokale Energiesysteme liefern.
- Bidirektionales V2G– Bei dieser Technologie können EVs Strom aus dem Netz laden wie auch ins Netz einspeisen. Intelligente Technologien verkaufen den gespeicherten Strom bei Bedarf automatisch wieder an den Energieversorger.
- Sollen diese Schnittstellen in den sauberen Energiesystemen von morgen eine wichtige Rolle spielen, müssen wir heute beginnen, Lösungen für die damit verbundenen Herausforderungen zu erarbeiten. Dazu zählt die Integration von V2G in die bestehende Netzinfrastruktur, die beträchtliche Investitionen in die Modernisierung der Hardware und Software erfordern wird. Das Ziel ist, sie in grossem Massstab für bidirektionales V2G – die leistungsstärkste V2G-Technologie – fit zu machen. Wie schnell EV-Batterien verfügbar sein werden, um ein sauberes Energiesystem zu unterstützen, wird unmittelbar vom Tempo dieser Modernisierung abhängen.
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Eine weitere grosse Herausforderung stellen die Batterien selbst dar, insbesondere ihre Langlebigkeit. Die Leistung von Lithium-Ionen-Batterien lässt mit jedem Ladezyklus nach. Wenn nun die V2G-Technologie hinzukommt, müssten EVs ihre Batterien viel häufiger laden und entladen. Die Batterietechnologie muss verbessert werden, damit EV-Besitzer V2G nicht ablehnen, weil sie Bedenken hinsichtlich der Langlebigkeit der Batterien haben.
Die EV-Besitzer werden massgeblichen Einfluss darauf haben, wie schnell V2G sich etablieren wird. Sie müssen davon überzeugt sein, dass die Frage der Batterielebensdauer und andere technische Aspekte geklärt sind. Sie müssen zudem die Gewissheit haben, dass V2G einfach anzuwenden ist, ihr Auto ausreichend aufgeladen ist, wenn sie es brauchen, und die Technik echte finanzielle Vorteile bietet. Diese können zum Beispiel aus dem Laden in Niedertarifzeiten oder der Vergütung von Stromeinspeisungen ins Netz resultieren. Um die Unterstützung und Mitwirkung von EV-Besitzern zu gewährleisten, sind Aufklärung, ein hochwertiges Produktdesign und klare Anreize nötig.
Um eine baldige Einführung von V2G sicherzustellen, muss die Politik an der Standardisierung der Technologie und an gezielten Anreizen arbeiten. Dies kann Verbraucherinnen und Verbraucher sowie Unternehmen dazu ermuntern, in die V2G-Infrastruktur zu investieren
Zur Bewältigung dieser und anderer Herausforderungen müssen Akteure aus den Sektoren Fahrzeugherstellung, öffentliche Infrastruktur und Energie angespornt werden, sich zu der Technologie zu bekennen. Dazu ist eine breite regulatorische Unterstützung erforderlich. Vereinzelt wurden bereits entsprechende Bedingungen geschaffen. Zum Beispiel hat Maryland kürzlich als erster US-Bundesstaat umfassende Gesetze verabschiedet, um das bidirektionale Laden von Fahrzeugen zu ermöglichen. Ausserdem legte der Bundesstaat den Grundstein für die Einrichtung von „virtuellen Kraftwerken“, die zur Netzstabilisierung Energie aus mehreren Quellen, unter anderem V2G, bündeln können.7 Das weltweite regulatorische Umfeld für V2G ist allerdings noch unausgereift, denn es mangelt an harmonisierten Standards und klaren politischen Anreizen. Um eine baldige Einführung von V2G sicherzustellen, muss die Politik an der Standardisierung der Technologie und an gezielten Anreizen arbeiten. Dies kann Verbraucherinnen und Verbraucher sowie Unternehmen dazu ermuntern, in die V2G-Infrastruktur zu investieren.
Die Chancen von V2G nutzen
Die V2G-Technologie besitzt das Potenzial, einen bedeutenden Beitrag zur Emissionsminderung zu leisten. Dank V2G müssen Energieversorger nicht mehr unbedingt fossile Kraftwerke hochfahren, wenn die Sonne nicht scheint oder kein Wind weht. Der finanzielle Nutzen für EV-Besitzer kann zwar abhängig von den lokalen Stromtarifen und der Stromnachfrage im Netz variieren. Die V2G-Technologie kann jedoch die Kosten für den Besitz eines EV verringern und so die weitere Verbreitung vorantreiben.
Doch wie bei jeder Technologie in der frühen Entwicklungsphase sind auch die Entwicklung und die Umsetzung von V2G auf Unterstützung durch Investorinnen und Investoren angewiesen. Sie können Unternehmen finanzieren, die im Automobil-, Infrastruktur- und Energiesektor Vorreiter für die V2G-Technologie sind. Dadurch können sie den Einsatz der V2G-Lösungen beschleunigen, die für den Aufbau eines nachhaltigen Energiesystems nötig sind. Die Energiewende ist bereits in vollem Gange. V2G stellt dabei sowohl eine attraktive Anlagemöglichkeit dar als auch eine Chance, einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung der Klimakrise zu leisten.
V2G ist eine einfache Idee mit dem Potenzial für grundlegende Veränderungen. Angesichts der dringend notwendigen Elektrifizierung der Wirtschaft ist diese Chance zu gross, um sie ungenutzt zu lassen.
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