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US-Schuldenobergrenze im Härtetest
Kernpunkte
- Die Pattsituation im Kongress über die Genehmigung neuer US-Schulden könnte zu einem technischen Zahlungsausfall führen, wenn nicht innert Wochen ein Kompromiss erzielt wird.
- Der für die Finanzwelt relevante „risikofreie“ Zinssatz beruht auf US-Staatsanleihen. Eine Gefährdung des Status dieser Papiere würde eine Neubewertung aller anderen Vermögenswerte bedeuten.
- Unseres Erachtens dürfte man sich in letzter Minute darauf einigen, die Schuldenobergrenze anzuheben, zumal es schwerwiegende Konsequenzen hätte, wenn den USA das Geld ausgehen würde.
- 2011 sorgte eine Einigung in letzter Minute für Volatilität an den Märkten: Aktienkurse und Anleiherenditen fielen, die Spreads weiteten sich aus, Gold legte zu und der Dollar erstarkte. Wird eine Einigung gefunden, so wird das Thema in aller Stille verschwinden. Wir halten an der Übergewichtung von US-Staatsanleihen fest.
Das US-Finanzministerium hätte sich nicht klarer ausdrücken können: Eine waghalsige Politik im Zusammenhang mit der US-Schuldenobergrenze könne „der amerikanischen Wirtschaft ernsthaften Schaden zufügen“. Bereits ab dem 1. Juni – Monate früher als Anfang 2023 angenommen – könnte das Finanzministerium entscheiden müssen, welche Gläubiger es bedient und welche Zahlungen es aufschiebt. Wir beleuchten drei Szenarien und die Risiken eines Zahlungsausfalls der US-Regierung.
Die USA haben im Januar ihre Schuldenobergrenze von USD 31,4 Bio. überschritten. Inzwischen belaufen sich die Schulden des Landes auf mehr als USD 31,7 Bio., Tendenz steigend. Am 27. April nutzten die republikanischen Abgeordneten im Repräsentantenhaus ihre Mehrheit mit dem Ziel, einen bereits verabschiedeten Haushalt einzuschränken. Mit einer Mehrheit von zwei Stimmen verabschiedeten sie einen Gesetzesentwurf zur Anhebung der Schuldenobergrenze um USD 1,5 Bio. Die Anhebung ist an die Bedingung geknüpft, dass die Regierung Biden Industriesubventionen und Steuergutschriften streicht, welche die Energie- und Infrastrukturwende der USA unterstützen sollen. Die Pläne der Republikaner, die von den Demokraten abgelehnt wurden, sehen auch strengere Kriterien für die Ärmsten vor, wenn es um den Anspruch auf Gesundheitsversorgung und Lebensmittelmarken geht.
Am 1. Mai überraschte die US-Finanzministerin Janet Yellen den Kongress mit der Aussage, dass schon der 1. Juni der „Tag X“ sein könnte – der Tag also, an dem das US-Finanzministerium kein Geld mehr hat, um seinen Verpflichtungen nachzukommen. Das genaue Datum ist ungewiss, denn es hängt davon ab, wie viel die Regierung an Einkommenssteuern einnimmt; bisher meldet das Finanzministerium für 2023 geringere Einnahmen als vor einem Jahr (siehe Grafik 1). Das Finanzministerium hat schon begonnen, „ausserordentliche Massnahmen“ zu ergreifen. So gibt es etwa keine Wertpapiere mehr aus, auf die sich US-Bundesstaaten und Gemeinden bei der Verwaltung ihrer Budgets stützen, da diese Papiere bei der Schuldenobergrenze angerechnet werden. Wenn Massnahmen dieser Art ausgeschöpft sind, kann das Finanzministerium Teile der Regierung schliessen und die Zahlungen an Regierungsangestellte aufschieben.
Es gilt zu bedenken, dass auf US-Staatsanleihen der risikofreie Referenzzinssatz für Finanzanlagen weltweit beruht. US-Staatsanleihen werden als global sicherste, „risikofreie“ Finanzanlagen betrachtet. Alle anderen monetären Vermögenswerte hängen von diesem Referenzwert ab. Eine Gefährdung des Status von US-Staatsanleihen würde zu einer Neubewertung aller anderen Vermögenswerte führen, von Staatspapieren über Unternehmensanleihen bis hin zu Immobilien. Zudem würde die wirtschaftliche Glaubwürdigkeit der USA untergraben. Janet Yellen sagte am 7. Mai, dass hier der Kongress gefragt sei. „Ein Scheitern führt zu einer wirtschaftlichen und finanziellen Katastrophe, die wir uns selbst zuzuschreiben haben.“
Letzte Woche hat das Weisse Haus seine eigenen Schätzungen und Szenarien zu den wirtschaftlichen Auswirkungen eines Zahlungsausfalls der USA im dritten Quartal 2023 vorgelegt. Im Falle einer waghalsigen Politik wird erwartet, dass 200’000 Arbeitsplätze verloren gehen und das reale Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um annualisiert 0,3% geschmälert wird. Im Falle eines „längeren Zahlungsausfalls“ wird damit gerechnet, dass 8,3 Millionen Arbeitsplätze verschwinden und die BIP-Einbusse mehr als 6% beträgt.
Noch immer „AA+“
Die Märkte haben in der Vergangenheit die regelmässigen politischen Auseinandersetzungen um die US-Schuldenobergrenze gelassen hingenommen, und das aus gutem Grund. Seit 1960 hat der Kongress 78 Mal eine Anhebung der Obergrenze beschlossen, und dies in drei Fünfteln der Fälle unter republikanischen Präsidenten (siehe Grafik 2). Zuletzt wurde die Obergrenze im Dezember 2021 um USD 2,5 Bio. erhöht. Im Jahr 2011 gelang erst im letzten Moment eine Einigung. Daraufhin folgte die erste Herabstufung der Kreditwürdigkeit der USA überhaupt. Standard & Poor’s senkte das Rating der USA um eine Stufe von „AAA“ oder „hervorragend“ auf „AA+“ oder „ausgezeichnet“. Das Rating des Landes hat sich seither nicht wieder auf das frühere Niveau erholt. 2011 belief sich die Schuldenobergrenze der USA mit USD 16,4 Bio. lediglich auf etwas mehr als die Hälfte des heutigen Niveaus. Damals hatte das Land negative Realzinsen und eine Schuldenquote von 90% des BIP.
Mit der Straffung der Geldpolitik seit März 2022 sind die Kosten für die Bedienung höherer Staatsschulden gestiegen. Nach der letzten Anhebung liegt der Leitzins der Fed bei 5% bis 5,25%, während die ausstehenden Schulden 120% des BIP betragen. Wir halten es jedoch für unwahrscheinlich, dass die Zinsen 2023 gesenkt werden – es sei denn, weitere Spannungen im Bankensystem oder eine schwere Rezession veranlassen die Notenbank, die Kreditkosten früher zu reduzieren.
Angesichts der derzeitigen politischen Polarisierung in den USA kann ein technischer Zahlungsausfall nicht ausgeschlossen werden. Am Anfang einer Lösung steht auf jeden Fall ein Treffen zwischen dem Sprecher des Repräsentantenhauses, dem Republikaner Kevin McCarthy, und Präsident Joe Biden. Ein erstes Treffen ist für den 9. Mai geplant. Kevin McCarthy wurde von den Republikanern im Januar 2023 in einem langwierigen, 15 Wahlgänge dauernden Verfahren ernannt. Die Unterstützung für seine Position in der eigenen Partei hängt davon ab, dass er gegenüber einer Minderheit strikter Republikaner im Repräsentantenhaus fiskalpolitische Sparsamkeit demonstriert.
Alternative Szenarien
Workarounds gibt es viele, aber es bestehen Zweifel an ihrer politischen Machbarkeit sowie entsprechende rechtliche und finanzielle Unwägbarkeiten. Eine Lösung besteht darin, das Schuldenlimit einfach zu ignorieren. Dies gestützt auf Abschnitt 4 des 14. Zusatzartikels zur Verfassung, dem zufolge die Rechtsgültigkeit der Staatsschulden der Vereinigten Staaten nicht infrage gestellt werden darf. Dieser Zusatz geht auf den amerikanischen Bürgerkrieg zurück und war ein Versuch, die Unionsstaaten im Norden von der Begleichung der Schulden der Südstaaten zu befreien.
Eine weitere Möglichkeit wäre die Prägung einer Platinmünze im Wert von einer Billion Dollar auf der Grundlage eines Gesetzes aus dem Jahr 1997. Dieses räumt dem US-Finanzminister einen breiten Ermessensspielraum zur Prägung von Münzen mit beliebigem Nennwert ein. In diesem Szenario würde die US-Regierung ihre Finanzierungstätigkeit fortsetzen. Dazu würde sie eine oder mehrere neue 1-Billion-Dollar-Münzen bei der US-Notenbank Fed gegen entsprechende Barmittel hinterlegen, die sie für Zinszahlungen oder andere Verpflichtungen verwenden würde. Um eine reine monetäre Finanzierung des Defizits zu verhindern, müsste die Fed die Münzen dann durch Massnahmen der quantitativen Straffung „sterilisieren“, etwa durch den Verkauf von Anleihen in der Fed-Bilanz.
Eine dritte Lösung wäre die Ausgabe von US-Staatsanleihen zu Kupons, die über den Marktrenditen liegen. Dies würde es der US-Regierung ermöglichen, Anleihen über dem Nennwert auszugeben. Es würde eine Lücke zwischen den von den Anlegern erhaltenen Barmitteln und dem Nennwert der Schulden entstehen, der für die Berechnung der Schuldenobergrenze herangezogen wird.
In diesen Szenarien müsste die Regierung Biden wohl mit einer sofortigen rechtlichen Anfechtung rechnen. Dies würde den Obersten Gerichtshof auf den Plan rufen, in dem die Konservativen mit sechs zu drei Stimmen in der Überzahl sind. Der Gerichtshof stünde vor der Wahl, entweder einen katastrophalen technischen Zahlungsausfall auszulösen oder das Schuldenlimit durch einen rechtlichen Präzedenzfall aufzuheben, der es dauerhaft ausser Kraft setzen würde. Selbst wenn die Regierung Erfolg hätte, würden die Märkte eine Zeit der Unsicherheit rund um US-Schuldtitel erleben, auf die sich das gesamte Finanzsystem stützt. Einige Anleger würden diese Handlungen sicherlich als Zahlungsausfall interpretieren.
Basisszenario
Das wahrscheinlichste Szenario ist unseres Erachtens, dass man sich in letzter Minute auf eine Anhebung der Schuldenobergrenze einigt (60%) und so vermeidet, dass das Finanzministerium Zahlungen priorisieren muss. Allerdings besteht vielleicht eine 30%ige Chance, dass sich die Gesetzgeber auf kurzfristige Lösungen verständigen und die Befugnis des Finanzministeriums zur Ausgabe von Schuldtiteln bis Juli oder September verlängern. Und schliesslich lässt sich mit einer Wahrscheinlichkeit von etwa eins zu zehn nicht ausschliessen, dass kein Kompromiss zustande kommt. Das Finanzministerium wäre dann gezwungen, Tilgungs- oder Zinszahlungen für US-Verbindlichkeiten gegenüber anderen Forderungen den Vorrang zu geben.
Der Schuldenstreit hat auch eine geopolitische Dimension. Es sei „so gut wie sicher“, dass China einen Zahlungsausfall nutzen würde, um sich über die Funktionsmängel des politischen Systems in den USA lustig zu machen, sagte Avril Haines, Director of National Intelligence in den USA, am 4. Mai vor einem Senatsausschuss. Eine Bedrohung durch China ist derzeit eines der wenigen Themen, bei denen sich Demokraten und Republikaner einig sind.
Um die möglichen Folgen für Finanzanlagen zu ergründen, erinnern wir daran, wie die Märkte 2011 auf die Krise um die Schuldenobergrenze reagiert haben. Im Gegensatz zu anderen Jahren des politischen Feilschens um die Obergrenze war dies das einzige Mal, da das Land dem „Tag X“ vergleichsweise nahe kam. Die Aktienmärkte gaben deutlich nach, die Renditedifferenzen (Spreads) weiteten sich aus, der Goldpreis stieg und der Dollar erstarkte, während die Anleiherenditen trotz Herabstufung des US-Kreditratings fielen. Allerdings ist es schwierig, diese Entwicklungen allein auf den Schuldenstreit zurückzuführen, da sich die Eurozone damals in einer Staatsschuldenkrise befand. In anderen Phasen, da über die Schuldenobergrenze diskutiert wurde, waren die Reaktionen viel verhaltener. Jedenfalls zahlen die Anleger stets – so auch aktuell – einen Aufschlag für kurz vor dem „Tag X“ fällige Schatzwechsel und einen Abschlag für solche, die kurz danach fällig werden.
Das steigende Risiko eines Zahlungsausfalls würde auch den Druck auf den US-Dollar erhöhen, der sich aufgrund der Verlangsamung der amerikanischen Wirtschaft abschwächt. Der Dollar dürfte gegenüber dem Euro, dem Schweizer Franken und dem japanischen Yen an Wert verlieren. Auf Sicht von einem Jahr lautet unsere Prognose für EURUSD 1,12, für USDCHF 0,87 und für USDJPY 120. Gegenüber den Währungen anderer grosser Volkswirtschaften wie dem kanadischen, australischen oder neuseeländischen Dollar sowie gegenüber nordasiatischen Währungen wie dem chinesischen Yuan dürfte sich die US-Währung jedoch als widerstandsfähiger erweisen.
Die Marktvolatilität rund um die US-Schuldenobergrenze dürfte sich auf kurzlaufende US-Staatsanleihen beschränken. Die Situation für Anleihen mit längerer Laufzeit bleibt unverändert. Deshalb halten wir an der Übergewichtung von US-Staatspapieren fest. Wenn – wie wir immer noch erwarten und hoffen – der aktuelle Schuldenstreit beigelegt wird, ohne dass das Finanzministerium eine Rangfolge seiner Schulden festlegen muss, wird das Thema in aller Stille verschwinden. Doch in einem so gespaltenen politischen Umfeld muss das extremste Szenario zumindest in Betracht gezogen werden, denn ohne Kompromiss würden Finanzanlagen mindestens kurzfristig in ein Preisdilemma geraten.
Wichtige Hinweise.
Die vorliegende Marketingmitteilung wurde von der Bank Lombard Odier & Co AG (nachstehend “Lombard Odier”) herausgegeben. Sie ist weder für die Abgabe, Veröffentlichung oder Verwendung in Rechtsordnungen bestimmt, in denen eine solche Abgabe, Veröffentlichung oder Verwendung rechtswidrig ist, noch richtet sie sich an Personen oder Rechtsstrukturen, an die eine entsprechende
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