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Bestandesaufnahme: Chinas Wiedereröffnung und seine Perspektiven
Kernpunkte:
- Nach einem kräftigen Aufschwung im ersten Quartal sind in China Anzeichen für eine Abschwächung der Produktions-, Immobilien- und Kreditaktivitäten zu beobachten. Der Binnenkonsum dürfte das Wachstum antreiben. Wir erwarten für 2023 ein Wirtschaftswachstum von 5,5%.
- Dieses gemischte kurzfristige Bild dürfte durch eine akkommodierende Geldpolitik ausgeglichen werden, die bis ins Jahr 2024 hinein beibehalten werden dürfte.
- Die geopolitische Fragmentierung zeigt sich in den Spannungen um Halbleiter, Taiwan und die Ukraine. Die Exportkontrollen zwischen den USA und China werden zunehmen. China hat bereits einen Vorsprung bei elektrischen Batterien aufgebaut.
- Chinesische Finanzanlagen bieten weiterhin Diversifizierungsvorteile. Wir erwarten für 2023 ein zweistelliges Gewinnwachstum, da die Aktien von der Wirtschaftspolitik profitieren. Bei Festverzinslichen sehen wir bessere Alternativen zu chinesischen Staatsanleihen, und wir rechnen mit einer weiteren Schwäche des Yuan.
China hat 2023 einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt, nachdem die Covid-Beschränkungen aufgehoben wurden. Die Geldpolitik ist nach wie vor akkommodierend. Während die Kursgewinne der Offshore-Aktien die Hoffnungen der Anlegerinnen und Anleger nicht erfüllt haben, sind die Gewinne der Onshore-Titel robust. China scheint jedoch in einem Wettstreit mit dem Westen gefangen, und die Situation bleibt angespannt. Wir blicken über den Aufschwung nach der Pandemie hinaus und beurteilen die Aussichten für die Wirtschaft und die Finanzanlagen des Landes.
Die Stimmung der Anleger gegenüber China ist nach wie vor labil, da die Investoren nicht nur die positiven Auswirkungen der Wiedereröffnung des Landes im Blick haben. Im Vergleich zur Situation vor einem Jahr, als Lockdowns in Kraft waren, hat sich die Wirtschaft erholt. Mit Blick auf die monatliche Entwicklung zeichnet sich jedoch eine nachlassende Dynamik ab. Der Gesamtwert der Einzelhandelsumsätze stieg im April um mehr als 18% im Vergleich zum Vorjahr, aber das Tempo der monatlichen Zuwächse verlangsamte sich auf 0,5% gegenüber März. Diese Dynamik spiegelte sich auch in den offiziellen Daten zur Industrieproduktion und zu den Anlageinvestitionen wider.
Wir betrachten den Binnenkonsum als Anker für Chinas Wachstum im weiteren Jahresverlauf. Viele hochfrequente Indikatoren für den Konsum sind im Mai stark geblieben und deuten auf eine positive Dynamik zur Mitte des zweiten Quartals 2023 hin. Auf die Haushalts- und Staatsausgaben entfällt nur etwas mehr als die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Doch ihr zweistelliges Wachstum dürfte die Schwäche der Exporte und Investitionsausgaben mehr als ausgleichen. Daher rechnen wir weiterhin mit einem realen BIP-Wachstum von rund 5,5% für das Gesamtjahr, gegenüber 3% im Jahr 2022. Der allgemeine Trend zur Lockerung der regulatorischen Massnahmen für bestimmte Branchen, einschliesslich Immobilienentwicklern, könnte für zusätzliche positive Wachstumsimpulse sorgen.
Die aussenwirtschaftliche Situation ist schwieriger. Chinas Warenexporte könnten sich dieses Jahr in US-Dollar gerechnet um bis zu 9% verlangsamen. Denn wegen der schwächeren Entwicklung der westlichen Volkswirtschaften sinkt die Nachfrage nach chinesischen Waren, was die Leistungsbilanz des Landes auf etwa 1% bis 1,5% des BIP schrumpfen lässt. Dies verdeutlicht, wie wichtig eine robuste Binnennachfrage ist. Anstelle einer kurzfristigen Erholung des Handels ist eher zu erwarten, dass die restriktiven Zinsen in den USA und Europa die Nachfrage weiter belasten.
Politische Unterstützung ist zur Aufrechterhaltung der Binnennachfrage unverzichtbar. In der Fiskalpolitik sehen wir nur begrenzten Spielraum für zusätzliche Senkungen der Steuern und Gebühren für Unternehmen. Zunächst müssten die seit Langem bestehenden Bedenken über die Finanzen der Lokalregierungen ausgeräumt werden. Dennoch besteht Potenzial für weitere geldpolitische Unterstützung, falls erforderlich. Die People’s Bank of China (PBoC) scheint bereit, ihre akkommodierende Haltung beizubehalten und die inländischen Zinsen 2023 unverändert zu lassen. Sie könnte sich für eine weitere Lockerung des Mindestreservesatzes entscheiden, eines Mechanismus zur Freisetzung von Liquidität für Geschäftsbanken. Für den Immobiliensektor könnte neben den standardmässigen geldpolitischen Massnahmen eine aktivere Lockerung der Regulierung nötig sein, um die Wohnungskäufe und die Aktivitäten der Immobilienentwickler anzukurbeln.
Die Marktteilnehmer werden den Fokus allmählich auf den längerfristigen Konjunkturausblick richten. Unseres Erachtens dürfte China in den nächsten fünf Jahren ein durchschnittliches reales BIP-Wachstum von 4% erreichen. Dies weil der Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter die stetige Produktivitätssteigerung und die aggressiven Investitionen in Zukunftstechnologien ausgleicht. Längerfristig bedeutet eine alternde Bevölkerung, dass die Wirtschaft in einem stabileren Tempo wächst, das vielleicht eher mit dem der Industrieländer vergleichbar ist. Dies stellt die politischen Entscheidungsträger Chinas vor neue Herausforderungen, denen zum Teil mit noch höheren Urbanisierungsraten und Sozialreformen begegnet werden kann. Ob China im Zeitalter des Friend-Shoring seine derzeitige Dominanz in der verarbeitenden Industrie aufrechterhalten kann, wird sich weisen. Für Anleger empfiehlt es sich, davon auszugehen, dass zumindest ein leichter Rückgang des chinesischen Weltmarktanteils unvermeidlich ist.
Stärkerer strategischer Wettbewerb
Auf der geopolitischen Ebene sorgen die Beziehungen zu den USA immer wieder für Schlagzeilen. Es geht um einen strategischen Wettbewerb und um ein zunehmend multipolares Gleichgewicht von Macht und Einfluss. Mit dem Ukrainekrieg haben die Beziehungen Chinas zu Russland die Spannungen nur noch verstärkt; China ist nicht bereit, die Invasion zu verurteilen, und kauft russische Energie. Die Auseinandersetzung um Taiwan zieht besondere Aufmerksamkeit auf sich, gerade auch weil in Taiwan die fortschrittlichsten Halbleiterhersteller der Welt ansässig sind.
Vor diesem Hintergrund werden Anleger mit zunehmenden Exportkontrollen zwischen dem US-Block und China leben müssen. Die USA und ihre Verbündeten haben eine Reihe von Beschränkungen eingeführt, um Chinas Fortkommen im Halbleiterbereich zu behindern. Dadurch ist China auf sich allein gestellt, wenn es fortschrittliche Ausrüstung zur Chipherstellung entwickeln will. Chinas Nachteil im Halbleitersektor bedeutet nicht, dass der US-Block alle Branchen dominieren wird. In den Bereichen saubere Energie und Elektrofahrzeuge etwa hat China einen Vorsprung aufgebaut, der durch US-Beschränkungen nicht aufzuholen ist.
Diese geopolitischen Risiken verringern das Interesse ausländischer Anleger an chinesischen Vermögenswerten, was sich auf Direktinvestitionen und Kurse auswirkt. Die Flucht ausländischen Kapitals aus chinesischen Offshore-Anlagen ist einer der Gründe für die jüngst enttäuschende Performance von offshore notierten chinesischen H-Aktien. Zwischen Anfang November 2022 und Januar 2023 verzeichneten Offshore-Aktien im Zuge der Wiedereröffnung Chinas eine Rally und überflügelten inländische A-Aktien sowie den MSCI World Index. Seit Jahresbeginn ist die Performance der Offshore-Aktien im Wesentlichen unverändert, gegenüber einer Performance von 6% für in Festland-China gelistete A-Aktien.
Mögliche Outperformance
Welche Entwicklung ist für chinesische Finanzanlagen zu erwarten? Die Diversifizierungsvorteile, die sich aus der Aufnahme chinesischer Vermögenswerte in ein Portfolio ergeben, bleiben intakt. Während sich die westlichen Volkswirtschaften abschwächen, wächst die chinesische Wirtschaft weiter. Angesichts der niedrigen Inflation steht die PBoC nicht unter Druck, die geldpolitischen Bedingungen zu straffen. Wir sind der Meinung, dass sich steigende inländische Verbraucherausgaben in den kommenden Quartalen in verbesserten Unternehmensgewinnen niederschlagen. Weltweit werden chinesische Produkte und Dienstleistungen in einer Reihe von Branchen und Technologien immer wettbewerbsfähiger – so auch bei Elektrofahrzeugen, wo China fast die Hälfte des Marktanteils hält.
Unserer Ansicht nach dürften chinesische Aktien von einer Kombination aus stärkerem Wachstum, niedriger Inflation und einer unterstützenden Wirtschaftspolitik profitieren. Zwar basiert unser Investment Case nicht auf steigenden Gewinnmultiplikatoren chinesischer Aktien in diesem Jahr. Wir stellen aber fest, dass sie im Vergleich zu ihrem historischen Durchschnitt attraktiv bleiben.
Nach einem eher enttäuschenden ersten Quartal, das wahrscheinlich durch neuerliche Covid-Fälle im Dezember 2022 und Januar 2023 beeinflusst wurde, erwarten wir für dieses Jahr ein zweistelliges Gewinnwachstum. Das grösste Risiko für unsere Gewinnprognose besteht darin, dass sich das anziehende Wachstum in China nicht in einer Verbesserung der Unternehmensrentabilität niederschlägt, unter anderem aufgrund des anhaltenden Preiswettbewerbs. Allerdings deuten erste Anzeichen bereits darauf hin, dass sich die Margen vom tiefsten Stand seit zwei Jahrzehnten erholen. Dies gilt insbesondere für grosse Internetfirmen, die ihre Kosten gesenkt haben.
Alternativen bei Anleihen, Abschwächung des Yuan
Im Gegensatz zu unserer Haltung gegenüber chinesischen Aktien sehen wir bessere Alternativen zu chinesischen Anleihen und rechnen mit einer weiteren Schwäche der chinesischen Währung. Sowohl in chinesischen Festverzinslichen als auch im Yuan sind wir seit dem vierten Quartal 2022 untergewichtet. Die Performance chinesischer Staatsanleihen erreichte im Vergleich zu den globalen Staatsanleihenindizes im Oktober 2022 den Höhepunkt. Chinas Staatsanleihen bieten weiterhin Diversifizierungsvorteile in globalen Portfolios, und wie erwähnt steht die PBoC nicht unter Druck, die Geldpolitik zu straffen. Eine Erholung der Kreditströme dürfte jedoch zur zyklischen Erholung beitragen und mit einem Aufwärtspotenzial der Renditen einhergehen. Das aktuelle Zinsniveau chinesischer Staatsanleihen ist niedrig, sodass wir bessere Chancen bei US-Staatsanleihen und Investment-Grade-Unternehmensanleihen anderer Industrieländer sehen. Wir bevorzugen auch andere Schwellenländeranlagen, darunter brasilianische Staatsanleihen.
Die chinesische Währung hat sich dieses Jahr gegenüber dem Euro, dem japanischen Yen und dem Schweizer Franken abgeschwächt, während sie gegenüber dem Dollar relativ stabil geblieben ist. Diese Trends dürften sich unseres Erachtens fortsetzen, da sich viele der Faktoren, auf denen die Yuan-Stärke in den Jahren 2020 bis 2022 beruhte, umgekehrt haben: Eine sich wieder öffnende chinesische Wirtschaft dürfte einen Anstieg chinesischer Importe zur Folge haben, während die weltweite Nachfrage nach chinesischen Exporten zurückgehen dürfte. Zugleich dürfte eine Erholung der Ausgaben chinesischer Touristen im Ausland zu Kapitalabflüssen aus dem Land führen.
Wichtige Hinweise.
Die vorliegende Marketingmitteilung wurde von der Bank Lombard Odier & Co AG (nachstehend “Lombard Odier”) herausgegeben. Sie ist weder für die Abgabe, Veröffentlichung oder Verwendung in Rechtsordnungen bestimmt, in denen eine solche Abgabe, Veröffentlichung oder Verwendung rechtswidrig ist, noch richtet sie sich an Personen oder Rechtsstrukturen, an die eine entsprechende
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