rethink sustainability
„Prosumer“-Strom: Der rasante Aufstieg der dezentralen Energieversorgung
Im Jahr 1883 galt Cragside, das imposante, schlossähnliche Anwesen des britischen Industriemagnaten William Armstrong, als Wiege der Revolution: Die Liste von Königen und Premierministern, die das erste Gebäude besuchten, das mit selbst erzeugter Elektrizität betrieben wurde, war lang. Cragside, auch bekannt als „Palast eines modernen Magiers“, war Wohnhaus und Kraftwerk zugleich. Das gesamte Anwesen – von den Maschinen in den Werkstätten im Freien bis hin zu den Lampen im prunkvollen Salon – wurde durch mechanische Hydraulik und Wasserkraft betrieben: weltweit eine Premiere.
Im selben Jahr wurde auf einem Dach in New York eine weniger bekannte, aber nicht minder zukunftsträchtige Form der hauseigenen Stromerzeugung erprobt. Bei der Konstruktion des US-amerikanischen Erfinders Charles Fritts handelte es sich um die ersten Solarpaneele der Geschichte. Nur vier Jahre später baute der schottische Professor James Blyth die erste stromerzeugende Windturbine; ein zehn Meter hohes Windrad mit Stoffsegeln, das die Beleuchtung in seinem Landhaus antrieb.
Die ersten Versuche der heimischen Stromerzeugung aus erneuerbaren Energiequellen waren einem starken Wettbewerb ausgesetzt. In London und New York waren gerade Kohlekraftwerke in Betrieb genommen worden, die den Prototyp des heutigen Stromnetzes darstellten. Dabei versorgten grosse, zentralisierte, mit fossilen Brennstoffen betriebene Stromerzeuger dezentrale Verbraucher. Dieses Modell hatte mehr als ein Jahrhundert lang Bestand – doch nun schreibt der rasante Vormarsch der „Prosumer“ die Regeln der Energieversorgung neu.
Verdrängung fossiler Brennstoffe
Fritts errichtete seine Solaranlage nur fünf Gehminuten von Thomas Edisons Kraftwerk an der Pearl Street entfernt. Dieses produzierte damals genug Strom, um insgesamt 400 Lampen in den umliegenden Häusern und Unternehmen zum Leuchten zu bringen. Wenngleich seine Solarpaneele mit einem Wirkungsgrad von nur 1% arbeiteten und nicht in der Lage waren, eine grössere Menge an Strom zu erzeugen, war Fritts davon überzeugt, dass ihnen die Zukunft gehörte: „Wir werden schon bald sehen, dass die photoelektrische Platte mit Kohlekraftwerken konkurriert.“ Es dauerte zwar länger als erwartet, aber 140 Jahre nach diesen ersten Experimenten mit dezentraler Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien wird Fritts Vorhersage nun tatsächlich wahr.
Seit 1975 sanken die Kosten für Solarpaneele um satte 99,8%, von USD 115 auf USD 0,27 pro Watt1. Gleichzeitig wurde ihre Effizienz von nur 1% Sonnenlicht, das in Strom umgewandelt wird, auf durchschnittlich 20%2 gesteigert. Und neue Innovationen bei Paneelen aus gemischten Materialien – bei denen Silizium mit einem als Perowskit bekannten Mineral kombiniert wird – versprechen eine weitere Erhöhung des Wirkungsgrads auf über 30%.
Solarenergie ist heute günstiger als jede andere Form der Stromerzeugung3. Da die Kosten weiter sinken, sieht die Zukunft für Kraftwerke, die mit fossilen Brennstoffen betrieben werden, düster aus.
Lesen Sie auch: Speichertechnologien: der Grundstein für eine Zukunft der erneuerbaren Energien
Strom für das Volk
Die Transformation unserer Energiesysteme geht jedoch noch weiter. Der Vormarsch der „Prosumer“ – Hausbesitzer und Unternehmen, die sowohl Energie verbrauchen als auch erzeugen – bedeutet mehr als nur die Abkehr von fossilen Brennstoffen.
Solarenergie ist hervorragend skalierbar – die Energie der Sonne kann genutzt werden, um alles mit Strom zu versorgen, von einem Taschenrechner bis zu einem ganzen Land. Diese Skalierbarkeit macht sie für Hausbesitzer zum idealen Kandidaten für die erste weitverbreitete hauseigene Energieerzeugung. So wird den Verbrauchern nicht nur Strom bereitgestellt, sondern auch die Stromerzeugung selbst.
In vielen Industrieländern wurde die frühe Einführung von Solarpaneelen für Privathaushalte durch grosszügige öffentliche Subventionen vorangetrieben. Dazu zählten beispielsweise hohe Tarife für den Verkauf von überschüssigem Strom an das Stromnetz. Nun nimmt der Markt die Zügel in die Hand. Für Hausbesitzerinnen und Hausbesitzer geht die Rechnung auf: Da die Kosten für die Paneele so niedrig wie nie zuvor und die zentralen Stromtarife hoch sind, führen Solaranlagen zu Kosteneinsparungen. Selbst dort, wo die Subventionen weggefallen sind.
Dieses marktorientierte Wachstum ist inzwischen selbsttragend, denn die hohe Akzeptanz hat weitere Innovationen und einen kontinuierlichen Kostenrückgang zur Folge. Australien, eines der sonnenreichsten Länder der Welt, setzt am stärksten auf die „neue“ Technologie: 25% aller Haushalte verfügen über Solarzellen4, die fast alle in den letzten 15 Jahren installiert wurden.
Die Effizienzverbesserungen in der Solartechnik sind indessen enorm, sodass die Länder der nördlichen Hemisphäre rasch aufholen. Im Vereinigten Königreich beispielsweise hat sich die kumulierte Kapazität von Solaranlagen für Privathaushalte seit 2010 mehr als verdreissigfacht5.
Lesen Sie auch: Die CLIC®-Chronik: Ein Treffen mit Glowee, dem Start-up, das nachhaltige Beleuchtung aus biolumineszenten Bakterien schafft
Demokratisierung der Energie
Solaranlagen bringen drei eindeutige Vorteile für Hausbesitzerinnen und Hausbesitzer: Energiesicherheit, die Möglichkeit, Treibhausgasemissionen zu reduzieren, und Kosteneinsparungen. Letztere resultieren sowohl aus der Reduzierung des externen Stromverbrauchs als auch aus dem Verkauf von überschüssigem Strom an das Netz.
Der erstaunliche Preisverfall bei den Batterien für Elektrofahrzeuge (EV) untermauert diese Entwicklung. Mit einem Preisrückgang von 90% seit 20106 schaffen EV- und Hausbatteriesysteme ein landesweit verteiltes Batteriesystem, das die Verschwendung von überschüssigem Strom an sonnigen Tagen reduziert und den Bedarf an zentraler Energiespeicherung minimiert.
Mit der zunehmenden Verbreitung von Solarenergie und Batteriespeichern in Privathaushalten entstehen umfangreiche Netze von „Mini-Kraftwerken“. Durch die Rückkopplung mit dem zentralen Netz werden diese zu „virtuellen Kraftwerken“ (VPPs), die einen wichtigen Beitrag zum Energiemix leisten. Zudem können sie die nationalen Netze in Zeiten von Energieengpässen unterstützen, ohne dass teure, kohlenstoffemittierende „Spitzenlastkraftwerke“ eingeschaltet werden müssen.
In den USA könnten VPPs nach Schätzungen der Industrie bis 2030 die Nachfrage in Spitzenzeiten um 60 Gigawatt senken. Das entspricht dem durchschnittlichen Stromverbrauch von 50 Millionen amerikanischen Haushalten7. Regierungen versprechen sich von der Verbreitung der Solarenergie in Privathaushalten eine Stärkung der Widerstandsfähigkeit des nationalen Energiesystems, eine Verringerung des Bedarfs an Importen fossiler Brennstoffe und eine geringere Anfälligkeit gegenüber Terroranschlägen oder Naturkatastrophen.
Der Wandel der Energiesysteme wird voranschreiten. Mit zunehmender Demokratisierung der Energieversorgung könnte es zu einem Peer-to-Peer-Energiehandel kommen, der durch die Blockchain-Technologie ermöglicht wird: Strom wird auf dem eigenen Dach produziert, im Auto gespeichert und dann über ein lokales Netz an Haushalte in der Nähe verkauft. So würden Energieunternehmen völlig aus dem Kreislauf herausfallen.
An einigen Orten wird diese Dezentralisierung Haushalte und Gemeinden zum ersten Mal überhaupt mit Strom versorgen. Weltweit leben über 750 Millionen Menschen ohne Zugang zu Elektrizität – in Regionen, in denen die zentrale Stromerzeugung entweder unzuverlässig oder nicht rentabel ist8. Hier könnten Solarmodule in Verbindung mit Batteriespeichersystemen den Aufbau von Mini-Solarnetzen9 ermöglichen. Diese würden vollkommen unabhängig vom nationalen Stromnetz funktionieren und dazu beitragen, die Ungleichheit zu verringern und die „Lücke beim Energiezugang“ zu schliessen.
Lesen Sie auch: Von der Mülldeponie zu einem neuen Leben: Umgang mit dem wenig bekannten Problem der Windkraftanlagen
Der Anfang ist gemacht
Der Paradigmenwechsel in den Energiesystemen wird Kettenreaktionen in zahlreichen Sektoren auslösen. Neue Geschäftsmodelle werden entstehen, und etablierte Flächennutzungen werden verdrängt. Zudem werden sich die Immobilienbewertungen ändern, da die dezentrale Solarenergie bedeutende neue Einnahmequellen schafft.
Für Investorinnen und Investoren bieten sich enorme Chancen. 2021 stiegen die Unternehmensgewinne von 19 wichtigen Solarausrüstern erstmals über die Investitionskosten. Und seit Mitte 2020 vervierfachte sich der indexierte Aktienkurs der wichtigsten Solarunternehmen und übertraf damit sowohl den MSCI World Index als auch den breiteren Markt für erneuerbare Energien.
Dennoch hat die Branche noch immer enormes Wachstumspotenzial. Schätzungen zufolge gibt es weitere 200’000 Quadratkilometer10 verfügbarer Dachflächen, die für die Nutzung von Solarenergie geeignet sind. Zudem sollen in diesem Jahrzehnt fast USD 25 Billionen an Investitionen11 für die Elektrifizierung der Wirtschaft und die Dekarbonisierung der Stromerzeugung aufgewendet werden. Ein erheblicher Teil wird in die Batteriespeicherung und die Verkabelung fliessen, die für intelligente Netzsysteme und den zunehmenden Export von selbst erzeugtem Strom erforderlich sind. Dies wird zu einer drastischen Verschiebung der Gewinnpools führen. Der Markt für Dachsolaranlagen wird von USD 62 Milliarden im Jahr 2021 auf USD 265 Milliarden im Jahr 2030 anwachsen12.
Diese Entwicklung wird teilweise durch neue Subventionen und politische Massnahmen vorangetrieben. Die Regierungen erkennen inzwischen die Bedeutung der heimischen Solarenergie für die Energieunabhängigkeit, insbesondere seit dem Einmarsch Russlands in der Ukraine. In den USA wird der „Inflation Reduction Act“ den Investitionsfreibetrag bis 2035 verlängern, sodass Hausbesitzerinnen und Hausbesitzer 30% der Kosten für die Installation von Solaranlagen geltend machen können.
Lesen Sie auch: Hubert Keller bei Bloomberg: Von Innovation zum Massenmarkt – Investitionen zur Realisierung von Netto-Null
In der Zwischenzeit wird der RePowerEU-Plan der EU die Investitionen in den Sektor vorverlagern und einen massiven Anstieg der Solarstromerzeugung auslösen. Dem Plan zufolge könnten Dachsolaranlagen über 24% des gesamten Stromverbrauchs in der EU abdecken, was den heutigen Anteil von Erdgas übertrifft. Hierzu wird schrittweise eine gesetzliche Verpflichtung eingeführt, alle neuen Wohn-, öffentlichen und gewerblichen Gebäude mit Solaranlagen auf dem Dach auszustatten und alle bestehenden grossen öffentlichen und gewerblichen Gebäude nachzurüsten. Der Plan verdeutlicht auch, wie wichtig es ist, Prosumer zu fördern: durch Steuerbefreiungen, transparente Vergütungsstrukturen für den Export von Strom aus dem eigenen Haus in das Netz und durch die Möglichkeit des Peer-to-Peer-Stromverkaufs.
Mehr als nur ein Dach
Seit Tausenden von Jahren dienen Dächer nicht nur dazu, den Regen fernzuhalten. Im alten Ägypten waren Flachdächer soziale Räume: Nachbarn trafen sich, Familien nahmen ihre Mahlzeiten ein, und an warmen Abenden schliefen die Hausbewohner dort. In vielen Teilen der Welt ist dies noch immer die Regel; in westlichen Städten hingegen werden die Dächer manchmal als Gärten, Terrassen oder sogar Schwimmbäder genutzt. Nun finden die Dächer der Welt eine neue Bestimmung.
Die Installation von Solarpaneelen zu Hause erscheint nicht wirklich revolutionär. Eine in der Fachzeitschrift Nature veröffentlichte Studie ergab indessen, dass unser gesamter Strombedarf gedeckt werden könnte, wenn bereits die Hälfte der Hunderte Millionen Dächer weltweit mit Solarpaneelen bestückt würde13. Und dafür wären keine anderen Formen der Stromerzeugung erforderlich.
Auch wenn wir diesen Punkt vielleicht nie erreichen werden, hat die Heimsolaranlage das Potenzial, die Energiebranche zu erschüttern. So hat sich seit 201014 die weltweite Solarkapazität für Privathaushalte um das Fünfzehnfache erhöht. Bis 203015 wird ein weiterer Anstieg um das Siebenfache erwartet. Dabei könnten die mehr als 100 Jahre herkömmlicher Stromnetze auf den Kopf gestellt und der Übergang zur Nachhaltigkeit in zahlreichen Sektoren vorangetrieben werden.
1 https://ourworldindata.org/grapher/solar-pv-prices
2 https://www.forbes.com/home-improvement/solar/most-efficient-solar-panels/
3 https://www.weforum.org/agenda/2020/10/solar-energy-cheapest-in-history-iea-renewables-climate-change/
4https://www.csiro.au/en/news/News-releases/2021/Australia-installs-record-breaking-number-of-rooftop-solar-panels
5 Bloomberg NEF
6 Idem
7Explainer: Was ist ein virtuelles Kraftwerk? | Reuters
8 https://www.un.org/africarenewal/news/universal-access-sustainable-energy-will-remain-elusive-without-addressing-inequalities
9 https://www.worldbank.org/en/news/press-release/2022/09/27/solar-mini-grids-could-power-half-a-billion-people-by-2030-if-action-is-taken-now
10 Lombard Odier Research
11 Prognosen von Lombard Odier
12 Idem
13 https://www.nature.com/articles/s41467-021-25720-2
14 https://www.iea.org/reports/solar-pv
15 Idem
Wichtige Hinweise.
Die vorliegende Marketingmitteilung wurde von der Bank Lombard Odier & Co AG oder einer Geschäftseinheit der Gruppe (nachstehend “Lombard Odier”) herausgegeben. Sie ist weder für die Abgabe, Veröffentlichung oder Verwendung in Rechtsordnungen bestimmt, in denen eine solche Abgabe, Veröffentlichung oder Verwendung rechtswidrig wäre, noch richtet sie sich an Personen oder Rechtsstrukturen, an die eine entsprechende Abgabe rechtswidrig wäre.
Entdecken Sie mehr.
teilen.