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Ernährungsunsicherheit aufgrund des Ukrainekriegs dürfte zu mehr Volatilität führen
Lombard Odier Private Bank
Kernpunkte
- Der Krieg in der Ukraine zeigt, wie anfällig die globale Lebensmittelsicherheit ist. Da die Seewege blockiert sind, werden alternative Landwege für die Ernte 2021 der Ukraine entwickelt
- Während die Rohstoffpreise steigen, trifft die Lebensmittelinflation die ärmsten Länder und die importabhängigen Volkswirtschaften am härtesten. 276 Millionen Menschen weltweit sind von akuter Nahrungsmittelknappheit bedroht
- In den Schwellenländern können Lebensmittel bis zur Hälfte der zur Berechnung der Inflation herangezogenen Güter ausmachen, während es in der Europäischen Union lediglich 10% bzw. in den USA 8% sind
- Die Lebensmittelinflation kann soziale Unruhen auslösen. Wir bleiben vorsichtig und beobachten die Risiken für die globalen Aussichten sorgfältig.
Nach einer dreitägigen Reise von Griechenland aus ist das in Liberia registrierte Schiff Polarstar am 16. Februar 2022 in den ukrainischen Hafen Odessa eingelaufen. Seither hat sich der 177 Meter lange Massengutfrachter nicht mehr bewegt. Russlands Einmarsch in der Ukraine verhindert die Ausfuhr eines Zehntels der weltweiten Weizenernte. Die Vereinten Nationen (UN) haben gewarnt, dass der Welt eine Nahrungsmittelknappheit drohe.
Die Polarstar ist nicht das einzige Schiff, das in einem ukrainischen Hafen festsitzt. Nach Angaben der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation der UN sind insgesamt 84 Schiffe und 450 Seeleute hinter ukrainischen Seeminen und russischen Seeblockaden vom gleichen Schicksal betroffen. Gestrandete Schiffe bedeuten, dass die Ukraine ihre Getreideernte nicht in den Rest der Welt transportieren kann. Auf die Ukraine entfielen laut den UN im Jahr 2021 10% der weltweiten Weizenexporte. Der Krieg lässt die Anbauflächen in der Ukraine schrumpfen und verringert die Möglichkeit, Arbeitskräfte einzustellen. Zudem geht infolge steigender Treibstoffpreise das Angebot an Düngemittel zurück, was wiederum die Ernteerträge beeinträchtigt. Weitere 17% der weltweiten Weizenexporte stammten aus Russland, dessen Ausfuhr in viele Märkte durch internationale Sanktionen eingeschränkt ist.
Die Ukraine galt einst als „Kornkammer“ der Sowjetunion. Drei Jahrzehnte nach dem Ende der Sowjetunion unterstreicht die russische Invasion die Bedeutung der fruchtbaren Böden und der langen Vegetationsperiode in der Ukraine für die globalen Lieferketten. Der weltweite Weizenmarkt ist stark konzentriert: 89% des Handels im Jahr 2021 entfielen auf sieben Länder, wobei Russland und die Ukraine der zweit- bzw. der sechstgrösste Lieferant waren. Dies geht aus einem letzte Woche veröffentlichten Bericht der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UN (FAO) hervor. Ausserdem lieferten Russland und die Ukraine zusammen mehr als die Hälfte der weltweiten Sonnenblumenkerne.
Gemäss der ukrainischen Regierung sind 20 Millionen Tonnen Getreide und Hülsenfrüchte sowie 5 Millionen Tonnen Ölsaaten aus der Ernte 2021 blockiert. Wenn die Ernten nicht exportiert werden können, wird sich die Situation mit Beginn der neuen Ernte im Juli verschlimmern. Dann würden dem Land Möglichkeiten zur Lagerung der zusätzlichen Produktion fehlen. Das US-Landwirtschaftsministerium (USDA) schätzt, dass die ukrainische Weizenernte um 35% bzw. 9 Millionen Tonnen geringer ausfallen wird als 2021.
Logistikkorridore
Alternativen zum Transport von Getreide auf dem Seeweg sind keine unmittelbare Lösung. Inkompatible Eisenbahnspuren zwischen der Europäischen Union und der Ukraine verlangsamen den Transport über alternative Landwege zu rumänischen Häfen und zur Donau. In der Türkei wurden Gespräche über die Öffnung der Seewege geführt, um Getreideexporte und möglicherweise auch Lieferungen von russischem Düngemittel zu ermöglichen. Die französische, die niederländische und die türkische Regierung haben angeboten, die Transporte mit Kriegsschiffen zu eskortieren. Russland will jedoch, dass im Gegenzug für seine landwirtschaftlichen Ressourcen die westlichen Wirtschaftssanktionen aufgehoben werden.
Steigende Rohstoffkosten schlagen sich unweigerlich in höheren Lebensmittelpreisen nieder. Laut der FAO wird die Welt im Jahr 2022 zusätzliche USD 51 Mrd. für Lebensmittel ausgeben. Weizen notiert 40% höher als vor einem Jahr, während Sojabohnen auf einem Zehnjahreshoch gehandelt werden. Den jüngsten Prognosen des USDA zufolge könnte die weltweite Weizenproduktion im Wirtschaftsjahr von Juni 2022 bis Mai 2023 775 Millionen Tonnen betragen, 4 Millionen Tonnen weniger als im Vorjahreszeitraum. Da das Gesamtangebot geringer sein dürfte als der Verbrauch, werden die Lagerbestände wahrscheinlich auf das Niveau von 2007/2008 zurückgehen.
Wo die Landwirte auf die Nahrungsmittelknappheit mit einer Ausweitung des Anbaus reagiert haben, wird die Kalkulation durch die schwankenden Erntepreise und die höheren Kosten für Düngemittel und Treibstoff erschwert. Diese belasten die Gewinnspannen. Die Verknappung von Düngemitteln aus Belarus könnte die Schätzungen zu den Ernteerträgen beeinträchtigen, die einigen Prognosen des USDA und auch des Privatsektors zugrunde liegen.
Es liegt in der Natur der Agrarproduktion, dass die Welt die Auswirkungen der russischen Invasion auf den Getreidemärkten noch bis 2023 und darüber hinaus spüren könnte.
Am 18. Mai warnte UN-Generalsekretär António Guterres vor dem „Gespenst einer weltweiten Nahrungsmittelknappheit in den kommenden Monaten“, was zu möglicherweise jahrelangen Problemen führen könnte. Nach Schätzungen der UN hat sich die Zahl der Menschen, die von akutem Hunger bedroht sind, innerhalb von zwei Jahren auf 276 Millionen verdoppelt.
Auch auf längere Sicht hat der Umgang mit der Lebensmittelproduktionskette hohe Priorität. Die Nahrungsmittelsicherheit hängt von einer Umstellung auf eine nachhaltigere und widerstandsfähigere Agrarproduktion ab und bietet Investitionsmöglichkeiten. Wir investieren nicht direkt in Agrarprodukte, die sich auf die Preise von Mais, Weizen, Sojabohnen und Reis auswirken könnten. Diese sind Grundnahrungsmittel, die zur Ernährungssicherheit beitragen.
Der Preis der Armut
Die durch den Krieg verursachten Probleme werden durch extreme Witterungsbedingungen in anderen Teilen der Welt verschärft, welche die Aussichten für Getreide verschlechtern. Chinas Weizenproduktion könnte nach schweren Unwettern einen Rekordtiefstand erreichen. Indien hat angesichts einer Hitzewelle die Ausfuhr von Getreide verboten. Und wegen einer Dürre in Ostafrika, die bereits in die vierte Saison geht, drohen Millionen Menschen in Äthiopien, Somalia und Kenia zu verhungern.
Die Auswirkungen der höheren Lebensmittelpreise sind ungleich verteilt. Sie treffen die ärmsten Länder der Welt und diejenigen, die am stärksten auf Lebensmittelimporte angewiesen sind. In den Schwellenländern können Lebensmittel zwischen einem Drittel und der Hälfte des Warenkorbs ausmachen, der zur Berechnung der Inflation herangezogen wird. In der Europäischen Union sind es lediglich 10% bzw. in den USA 8%.
Darüber hinaus sind einige ärmere Länder, insbesondere in Afrika, in hohem Masse von Russland und der Ukraine abhängig. Benin, Somalia, Ägypten und Sudan bezogen 2021 alle oder fast alle Weizenimporte aus Russland und der Ukraine (siehe Grafik). China, Ägypten und Algerien importierten nahezu ihr gesamtes Sonnenblumenöl aus den beiden Märkten. In weiteren Ländern verstärkte die von den Lebensmittelpreisen ausgehende Inflation die wirtschaftlichen Schocks. Dies war der Fall in Afghanistan, das von einer Hungersnot bedroht ist, und in Sri Lanka. Dort führte der Mangel an Lebensmitteln, Energie, Medikamenten und Treibstoff zu Gewalt, einer politischen Krise und der ersten Zahlungsunfähigkeit der Regierung in der Geschichte des Landes.
Nach Schätzungen der FAO werden die ärmsten Länder der Welt im Jahr 2022 USD 2,4 Mrd. weniger für den Kauf von Lebensmitteln ausgeben. Wegen der höheren Preise werden sich die Verbraucher beim Kauf teurer Produkte wie Fleisch und Ölsaaten zurückhalten und sich stattdessen auf Grundnahrungsmittel wie Reis konzentrieren.
Die Auswirkungen dieser Spannungen können tiefgreifend sein. Denken wir an den „Arabischen Frühling“ im Jahr 2010. Damals wirkten steigende Lebensmittelpreise und mangelndes Wirtschaftswachstum als Katalysatoren für eine Reihe von Volksaufständen in Nahost und Nordafrika. Die Lebensmittelinflation hat das Potenzial, erneut soziale Unruhen auszulösen und einzelne Volkswirtschaften oder ganze Regionen zu destabilisieren, was dann zu Massenmigrationen führt. Wenn die Unruhen eskalieren, können sich die bestehenden sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten verschärfen.
Jede weitere Krise in dem derzeit fragilen Umfeld würde die Aussichten für die Weltwirtschaft weiter verschlechtern und die Volatilität an den Finanzmärkten erhöhen. Wir bleiben bei unseren Anlagen vorsichtig und beobachten die internationalen Entwicklungen sehr sorgfältig.
Wichtige Hinweise.
Die vorliegende Marketingmitteilung wurde von der Bank Lombard Odier & Co AG (nachstehend “Lombard Odier”) herausgegeben. Sie ist weder für die Abgabe, Veröffentlichung oder Verwendung in Rechtsordnungen bestimmt, in denen eine solche Abgabe, Veröffentlichung oder Verwendung rechtswidrig ist, noch richtet sie sich an Personen oder Rechtsstrukturen, an die eine entsprechende
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