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    Ausbalancieren der Risiken in Europa im Zuge der EZB-Zinsstraffung

    Ausbalancieren der Risiken in Europa im Zuge der EZB-Zinsstraffung
    Samy Chaar - Chefökonom und CIO Schweiz

    Samy Chaar

    Chefökonom und CIO Schweiz
    Bill Papadakis - Macro Strategist

    Bill Papadakis

    Macro Strategist

    Kernpunkte

    • Die hohe Inflation hat die EZB gezwungen, die Zinsen um 50 Basispunkte anzuheben – trotz politischer Instabilität, schwachen Wachstums und einer noch lange nicht gelösten Energiekrise
    • Die Zinserhöhungen der EZB werden etwas stärker vorverlegt als bisher von uns angenommen; dennoch erwarten wir nach wie vor, dass der Straffungszyklus Anfang 2023 mit einem Einlagesatz von 1,25% seinen Höhepunkt erreicht – womit der geldpolitische Kurs neutral, aber nicht restriktiv ist
    • Das Transmission Protection Instrument – das neue Werkzeug der EZB zur Begrenzung der Spreadausweitung – hat einige Bedenken der Marktteilnehmer zerstreut; die politische Instabilität Italiens und potenzielle rechtliche Herausforderungen sind jedoch nicht zu vernachlässigende Risiken.

    Europa steht an mehreren Fronten unter Druck – und das Timing war für die Europäische Zentralbank (EZB) denkbar schlecht. Mario Draghis Rücktritt als italienischer Ministerpräsident erfolgte am selben Tag, an dem die EZB die Zinsen erstmals seit 2011 anhob. Der Zinsschritt der EZB war mit 50 Basispunkten (Bp.) deutlicher als erwartet. Anzeichen für eine Anspannung der Märkte – insbesondere die Ausweitung der Renditedifferenzen (Spreads) zwischen deutschen und italienischen Staatsanleihen – hatten bereits im Juni eine Dringlichkeitssitzung der EZB ausgelöst. Am 21. Juli wurde nun ein neues Instrument zur Bekämpfung der Fragmentierung angekündigt. Die Entscheidung Russlands, die Gaslieferungen über die Pipeline Nord Stream 1 wieder aufzunehmen, sorgte für Erleichterung. Sie bedeutet jedoch nicht das Ende der Energiekrise in Europa, auch wenn dadurch die schlimmsten Szenarien etwas unwahrscheinlicher werden. Die Kapazität der Pipeline ist nur zu 40% ausgelastet, und die europäischen Gasspeicher sind immer noch unzureichend gefüllt. Dies birgt die Gefahr eines ernsthaften Engpasses im Winter.

    Die Entscheidung Russlands, die Gaslieferungen über die Pipeline Nord Stream 1 wieder aufzunehmen, sorgte für Erleichterung. Sie bedeutet jedoch nicht das Ende der Energiekrise in Europa, auch wenn dadurch die schlimmsten Szenarien etwas unwahrscheinlicher werden

    Inflation zwingt die EZB zum Handeln

    Die EZB hatte kaum eine andere Wahl, als die Zinsen zu erhöhen – trotz schwächeren Wachstums, politischer Instabilität und eines weitgehend angebotsbedingten Inflationsanstiegs (höhere Lebensmittel- und Energiepreise infolge des Kriegs in der Ukraine). Angesichts einer Gesamtinflation von 8,6% und einer Teuerung, die sich auf zusätzliche Waren- und Dienstleistungsbereiche ausdehnt, stand die EZB unter Handlungsdruck. Sie musste verhindern, dass die Inflationserwartungen zu sehr in die Höhe schiessen. Abgesehen von der Bank of Japan ist die EZB die letzte grosse Notenbank der Industrieländer, welche die Zinsen angehoben hat. Die EZB-Währungshüter haben vergleichsweise langsam auf die steigende Inflation reagiert und wollen vermeiden, dass sie viel zu weit hinter die Kurve zurückfallen.

    Mit der Zinserhöhung um 50 Bp. hat die EZB ihre Bereitschaft bewiesen, angesichts der Verschlechterung der mittelfristigen Inflationsaussichten deutliche Massnahmen zur künftigen Wiederherstellung der Preisstabilität zu ergreifen. Die EZB hat nun ihren Zinsausblick – die „Forward Guidance“ – aufgegeben und wird den Pfad künftiger Zinserhöhungen von Sitzung zu Sitzung darlegen. EZB-Präsidentin Christine Lagarde bestätigte, dass weitere Zinsanhebungen angemessen seien.


    Ein flacherer Zinserhöhungszyklus

    Wir gehen nun davon aus, dass die EZB die Zinserhöhungen stärker vorverlegen wird – ähnlich wie die US-Notenbank. Für die nächste Sitzung im September rechnen wir mit einer weiteren Anhebung um 50 Bp. Insgesamt erwarten wir jedoch in Europa nach wie vor einen wesentlich flacheren Zinserhöhungszyklus als in den USA. Wir gehen davon aus, dass der Höchststand des EZB-Leitzinses Anfang 2023 erreicht und bei 1,25% liegen wird. Auf diesem Niveau schätzen wir die Geldpolitik als annähernd neutral ein, d.h. weder wachstumsfördernd noch -hemmend. Eine solche Entwicklung ist beachtlich in einem Kontext, in dem die Zinsen zunächst (vor der Juli-Sitzung) -0,5% betragen haben und seit acht Jahren negativ gewesen sind. Dennoch ist dieser Höchststand der europäischen Zinsen weit entfernt von den 3,75%, mit denen wir in den USA rechnen. Auch die Markterwartungen sind in den letzten Wochen deutlich nach unten korrigiert worden.

    Wir gehen nun davon aus, dass die EZB die Zinserhöhungen stärker vorverlegen wird … Insgesamt erwarten wir jedoch in Europa nach wie vor einen wesentlich flacheren Zinserhöhungszyklus als in den USA

    Dieses niedrigere Zinsniveau spiegelt die Tatsache wider, dass die Inflation in Europa grösstenteils importiert ist und sich daher weitgehend der Kontrolle der EZB entzieht. Hinzu kommt, dass die Binnennachfrage immer noch unter dem Vor-Pandemie-Niveau liegt und es kaum Anzeichen für eine Überhitzung des Arbeitsmarkts gibt.

    Angesichts der politischen Turbulenzen in Italien warteten die Marktteilnehmer auch gespannt auf die Ankündigung eines „Anti-Fragmentierungsinstruments“. Dieses soll verhindern, dass sich die Spreads zwischen Kern- und Peripherie-Staatsanleihen zu stark ausweiten und damit die Wirksamkeit der Geldpolitik einschränken. Hier musste die EZB überzeugen: Die Zinserhöhungen und der Zusammenbruch der Regierungskoalition von Mario Draghi bedeuteten einen Doppelschlag. Dieser führte dazu, dass sich die Spreads italienischer Staatsanleihen (BTP) gegenüber deutschen Bundesanleihen – die allein im Juli um rund ein Viertel gestiegen waren – von 1,85 auf 2,33 Prozentpunkte ausweiteten. Italienische Staatsanleihen dürften so lange unter Druck bleiben, bis Klarheit an der politischen Front herrscht. Am 25. September stehen Parlamentswahlen an.

    Kampf gegen die Fragmentierung

    Die EZB verfügt nun über zwei Instrumente zur Begrenzung der Fragmentierung. Das erste Instrument ist die flexible Reinvestition aus dem bestehenden Pandemie-Notfallankaufprogramm (PEPP), wobei noch keine Einzelheiten darüber vorliegen, was Flexibilität bedeutet. Das zweite Instrument ist das neue Transmission Protection Instrument (TPI), eine weitere Möglichkeit für die EZB, hauptsächlich Staatsanleihen zu kaufen. Positiv für die Märkte ist, dass die TPI-Käufe im Prinzip unbegrenzt sein können. Sie sind an keine besonderen Bedingungen geknüpft, ausser „einer ungerechtfertigten, ungeordneten Marktdynamik entgegenzuwirken, die eine ernsthafte Bedrohung für die Übertragung der Geldpolitik darstellt“. Ein weiteres potenzielles Instrument, die sogenannten Outright Monetary Transactions oder OMT, wurde noch nie eingesetzt und scheint angesichts der strengen zugehörigen Bedingungen hinfällig.

    Damit Ankäufe im Rahmen des TPI möglich sind, muss das Land, das die Schuldtitel emittiert, vier Kriterien erfüllen: Einhaltung des finanzpolitischen Rahmens der EU, keine schwerwiegenden makroökonomischen Ungleichgewichte, Tragfähigkeit der öffentlichen Verschuldung sowie eine solide und nachhaltige Makropolitik. Das TPI kann möglicherweise rechtlich angefochten werden. Eine Anfechtung könnte aufgrund der Meinung erfolgen, dass das TPI über das geldpolitische Mandat hinausgehe und die EZB direkt Regierungen finanziere.

    Selbst eine rechte Regierung mit euroskeptischen Tendenzen dürfte es vermeiden, den finanzpolitischen Rahmen der EU und die Brüsseler Haushaltsempfehlungen so zu verletzen, dass die Bereitschaft der EZB zur Aktivierung des TPI infrage gestellt würde

    Das ideale Szenario für die EZB ist, dass das TPI nie aktiviert wird. Nach dem Zusammenbruch der italienischen Regierung macht die zunehmende politische Unsicherheit jedoch eine drastische Ausweitung der italienischen Spreads wahrscheinlicher. Selbst eine rechte Regierung mit euroskeptischen Tendenzen dürfte es vermeiden, den finanzpolitischen Rahmen der EU und die Brüsseler Haushaltsempfehlungen so zu verletzen, dass die Bereitschaft der EZB zur Aktivierung des TPI infrage gestellt würde. Dennoch ist dieses Abwärtsszenario nicht zu vernachlässigen. Eine weitere Frage ist, ob die Käufe „sterilisiert“ oder ausgeglichen werden, um die Geldmenge stabil zu halten. Dies bleibt vorerst unklar. Allerdings dürfte die EZB eine anhaltende Ausweitung ihrer Bilanz aufgrund der TPI-Käufe verhindern wollen. Und während ein glaubwürdiges TPI weniger Stress auf den Anleihemärkten der Peripherieländer bedeuten dürfte, wird es nichts an den allgemeinen makroökonomischen Spannungen in Europa ändern: ein Angebotsschock bei Energie und Lebensmitteln und eine Nachfrage, die sich erst noch von dem durch Covid verursachten Rückschlag erholen muss. 

    Wichtige Hinweise.

    Die vorliegende Marketingmitteilung wurde von der Bank Lombard Odier & Co AG (nachstehend “Lombard Odier”) herausgegeben. Sie ist weder für die Abgabe, Veröffentlichung oder Verwendung in Rechtsordnungen bestimmt, in denen eine solche Abgabe, Veröffentlichung oder Verwendung rechtswidrig ist, noch richtet sie sich an Personen oder Rechtsstrukturen, an die eine entsprechende

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