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Ernährungssysteme neu denken, anlässlich von Davos 2023 – Transformation einer USD 10 Bio. schweren Industrie
Schätzungen zufolge ist jede achte Person Landwirt oder Landwirtin1. Millionen von Menschen arbeiten zudem in anderen Bereichen des Nahrungsmittel- und Agrarsektors: von der Produktion von Düngemitteln oder Landmaschinen bis hin zu zahlreichen weiteren Segmenten – die Liste liesse sich lange fortsetzen und ist offensichtlich ein unüberschaubares Labyrinth.
Der Nahrungsmittel- und Agrarsektor übertrifft gemessen an der Zahl der Beschäftigten sowie der Erzeuger alle anderen Sektoren: Weltweit bewirtschaften eine Milliarde Landwirte mehr als 500 Millionen Betriebe, meist Kleinbetriebe von weniger als zwei Hektar2. Mit einem Jahresumsatz von USD 10 Bio. leistet dieser gigantische Wirtschaftszweig einen wesentlichen Beitrag zum globalen BIP3.
Er trägt indessen auch massgeblich zum Klimawandel bei. Rund ein Drittel aller Treibhausgasemissionen stammt aus der Landwirtschaft, Nahrungsmittelindustrie und anderer Landnutzung (Agriculture, Food and Other Land Use – AFOLU). Diese Emissionen beeinträchtigen unsere planetaren Belastbarkeitsgrenzen am meisten – also diejenigen ökologischen Schutzzonen, die wir für die Erhaltung einer stabilen Umwelt aufrechterhalten müssen.
Der Sektor ist allerdings auch am stärksten den Gefahren des Klimawandels ausgesetzt: Ernten werden zunehmend bedroht von Überschwemmungen, Dürren, Waldbränden und Hitzewellen; diese wiederum werden verursacht durch den globalen Temperaturanstieg.
Anlässlich des Weltwirtschaftsforums 2023 in Davos veranstaltete Lombard Odier in Zusammenarbeit mit Goals House eine Expertenrunde, an der Fachleute und Vordenker aus der Lebensmittel- und Agrarindustrie, der Wissenschaft, dem Finanzwesen, der Politik und der Zivilgesellschaft teilnahmen. Sie sollten das dringende Problem dieses ins Wanken geratenen Giganten erörtern und herausfinden, wie wir einen globalen Wandel zu einer nachhaltigen Ernährung und nachhaltigen Ernährungssystemen erreichen können, ohne dass wir Erschwinglichkeit und Zugänglichkeit einbüssen.
Die Lage ist ernst
Hubert Keller, Senior Managing Partner von Lombard Odier, entwarf zunächst ein besorgniserregendes Bild über die Auswirkungen des Sektors auf die ökologische Stabilität.
„Wenn wir uns mit Umweltfragen beschäftigen, denken wir vor allem an Energie“, erklärte er. „Diesem Sektor kommt sicherlich eine entscheidende Bedeutung zu. Allerdings gibt es keinen Bereich, der für die Stabilität unserer Umwelt insgesamt so wichtig ist wie die Landwirtschaft, Nahrungsmittelindustrie und andere Landnutzung (AFOLU) – verletzt dieser Sektor doch unsere planetarischen Grenzen am meisten und zeichnet verantwortlich für 90% der weltweiten Entwaldung, 25% des Biodiversitätsverlusts und die Nutzung von 70% der weltweiten Süsswasserressourcen4.“
Ein Grossteil des Problems besteht laut Keller in der Ineffizienz des Sektors. „Wir haben inzwischen 50% aller bewohnbaren Flächen auf der Erde gerodet, um sie landwirtschaftlich zu nutzen, und 80% davon dient der Produktion von Fleisch und Milchprodukten. Mehr als 60% aller landwirtschaftlichen Flächen wird demnach für die Tierfütterung, und nicht die Ernährung von Menschen, gebraucht. Und das, obschon Fleisch lediglich 20% des weltweiten Kalorienbedarfs deckt und die Herstellung wasserintensiver ist als der Anbau pflanzenbasierter Nahrungsmittel. Zudem erzeugen wir dadurch das Doppelte an Treibhausgasemissionen. Die heutigen AFOLU-Systeme sind äusserst problematisch und ineffizient5.“
Die wichtigste Bedingung, so Hubert Keller, bei der Transformation des Sektors: „Um nachhaltige Ernährungssysteme zu schaffen, müssen wir 1 Milliarde Hektar landwirtschaftliche Nutzfläche renaturieren, also eine Fläche der Grösse Chinas. Wir kommen nicht umhin, von einem tierbasierten zu einem pflanzenbasierten Konsum überzugehen. Wir müssen verschiedene Lebensmittel für verschiedene Spezies – und zwar auf unterschiedliche Weise – produzieren. Und sie müssen alle effizienter verteilt werden.“
„Zur Erhaltung der Gesundheit unseres Planeten, der Menschen und der Wirtschaft ist dies unabdingbar“, schliesst er.
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Die Rolle der Kleinbauern
Gastrednerin war Sabrina Elba, Schauspielerin, Model und Botschafterin des Internationalen Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung (IFAD) der Vereinten Nationen sowie Gewinnerin des diesjährigen Crystal Award, den sie gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Schauspieler Idris Elba, erhielt. Sie hob ihrerseits die Notwendigkeit hervor, unsere Ernährungssysteme zu ändern, um den Klimawandel zu bekämpfen und die Biodiversität zu schützen.
Sie knüpfte an das Thema von Hubert Keller an, verschiedene Lebensmittel auf verschiedene Weise zu produzieren. Die gute Nachricht besteht ihrer Ansicht nach darin, dass viele der Lösungen bereits vorhanden seien: z.B. regenerative landwirtschaftliche Praktiken, alternative Proteine und kohlenstofffreie Düngemittel. Sie warnte jedoch, dass wir bei der Schaffung dieses neuen Ernährungssystems die Kleinbauern nicht vergessen dürften. „Wir müssen uns ihrer Bedeutung bewusst sein“, so Sabrina Elba. „Kleinbauern ernähren 80% der Bevölkerung Asiens und Afrikas. Das ist ein Drittel der gesamten Weltbevölkerung6.“
Als Kanadierin somalischer Herkunft gab sie einen Einblick in die Bedeutung von Kleinbetrieben für ländliche Gemeinschaften und insbesondere für Frauen. „Meine Mutter hat mir immer gesagt: ,Das Land, von dem ich lebte, war das Wichtigste, das ich hatte.‘ Arbeitsmöglichkeiten und Sicherheit sind unerlässlich. 1,7 Milliarden Frauen und Mädchen leben in ländlichen Gebieten, und bei fast allen Entwicklungsindikatoren kommen sie schlechter weg als die Männer. Über diese Frauen und diese Kleinbetriebe müssen wir reden.
Sie sind dem Klimawandel am meisten ausgesetzt. Sie sind jedoch unserer Ernährer. Wie können wir unsere Nahrungsmittel von ihnen beziehen und sie dann einfach im Stich lassen? Bei der Änderung unserer Ernährungssysteme müssen wir sie bei der Umstellung ihrer Anbaumethoden unterstützen, um den ländlichen Gemeinden aus der Armut zu helfen und Frauen zu stärken.“
Es geht hier nicht um ein Problem „der anderen“. Vielmehr ist es „unser aller Problem“, zumal diese Gemeinschaften keine Schuld am Klimawandel haben, sondern sogar einen wesentlichen Beitrag zur Bekämpfung der verheerenden Auswirkungen leisten können.
Die Schaffung einer gerechten Zukunft war die übergreifende Botschaft von Nicola Gryczka, Mitbegründerin der Social Gastronomy Movement (SGM). Sie bekräftigte Sabrina Elbas Position in Bezug auf unterrepräsentierte Gemeinschaften und erläuterte, wie die SGM Verbindungen pflegt, um positive Veränderungen in lokalen Ernährungssystemen herbeizuführen und junge Frauen und soziale Unternehmerinnen weltweit auszubilden. Nicola Gryczka wies auf die Notwendigkeit hin, „Lösungen an der Basis auf kommunaler Ebene“ mittels „technologischer Fortschritte, Koordination und Bereitschaft“ zu schaffen. Sie fuhr fort, dass die Landwirte einen Platz „am Tisch“ bekommen müssen. „Wir müssen mit ihnen und nicht über sie reden“, um Machtdefizite auszugleichen.
Ein Teufelskreis
Die Gemeinschaften von Kleinbauern sind den Gefahren des Klimawandels sehr ausgesetzt. Landwirte in aller Welt haben zudem seit Anfang 2022 ein gemeinsames Problem: die steigenden Kosten für Dünger. „Russland, Weissrussland und die Ukraine sind wichtige Rohstoffexporteure für die Düngemittelproduktion“, erklärt Alzbeta Klein, Geschäftsführerin der International Fertiliser Association. Ihre Warnung: „Der Krieg in der Ukraine führt wegen der hohen Preise zu Problemen in der Lieferkette. Es gibt einfach nicht genug. Wir müssen es den Landwirten ermöglichen, auf erschwingliche Weise zu produzieren und den Anschluss an den Weltmarkt zu finden.“
Laut Arne Cartridge, Special Adviser beim Düngemittelriesen Yara International, verbindet die Landwirte noch ein anderes Problem. „Wir müssen die Gesundheit der Böden ansprechen“, so Cartridge. „Sie sind mittlerweile degradiert und unproduktiver. Die Landwirte müssen mehr Chemikalien einsetzen. Damit schaffen sie einen Teufelskreis.“
Doch obwohl dieses Problem in den Industrie- wie auch in den Entwicklungsländern besteht, haben ländliche Gemeinschaften oft nicht die Mittel, um es anzugehen. „Wie können wir Kleinbauern unterstützen?“, fragt Cartridge. „Yara versucht, eine Plattform für Bodenexpertise aufzubauen. Es stehen so viele Informationen zur Verfügung, aber bislang sind sie alle fragmentiert. Wir müssen sie also auf einfache Weise zugänglich machen. Wir können aufgrund von Informationen dazu beitragen, die Probleme zu lösen.
Eine von Grund auf bessere Ernährung
Da die Monokulturen für die Verschlechterung der Böden mitverantwortlich sind, kommt der Entwicklung alternativer, vielfältigerer Nahrungsquellen eine besondere Bedeutung zu. Die EAT-Lancet Commission, die in Zusammenarbeit mit dem EAT-Forum der Wissenschaftszeitschrift The Lancet einen Bericht erstellte, empfiehlt eine grössere Ernährungsvielfalt zugunsten der Gesundheit von Mensch und Planet.
Wie Hubert Keller erklärte Olav Kjørven, Director of Strategy beim EAT-Forum, dass wir unseren Konsum von Obst, Gemüse, Nüssen und Hülsenfrüchten verdoppeln und den Verbrauch von rotem Fleisch und Zucker um 50% senken müssen, wenn wir unsere Ernährung nachhaltiger gestalten und mehr Menschen mit weniger Landbedarf ernähren wollen. Ausserdem muss die herkömmliche Landwirtschaft weichen – zugunsten einer Kombination aus Präzisionslandwirtschaft und naturfreundlichen, regenerativen Verfahren. So können sich die Böden erholen.
Rob Opsomer, Executive Lead bei der Ellen Macarthur Foundation, pflichtete bei, dass der Schwerpunkt auf regenerative Praktiken gelegt werden müsse. Doch er meinte, dass dieser Ansatz den gesamten Nahrungsmittelsektor, nicht nur die Landwirtschaft durchdringen sollte. „Die meisten Lebensmittel, die wir essen, wurden von jemandem entwickelt“, sagte er. „Jemand hat für Sie die Inhaltsstoffe ausgewählt und die Herstellung konzipiert. Wer macht das? Tatsächlich beeinflusst eine kleine Gruppe von Menschen bei den grössten Markten und Einzelhändlern 40% der Nutzung der Agrarflächen.“ Er forderte einen neuen, Bottom-up-Ansatz: „Wir müssen mit vielfältigeren Zutaten arbeiten und auf regenerative Ergebnisse und Lösungen hinarbeiten.“
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Finanzierung des Wandels
Hubert Keller von Lombard Odier wandte sich vor diesem Hintergrund der Frage zu, wie dieser sektorweite Wandel erreicht werden kann:
„Unseren Schätzungen zufolge wird der Übergang zur Nachhaltigkeit in AFOLU-Systemen bis 2030 einen Markt von USD 1,5 Bio. schaffen. Letztlich werden eine bessere Wirtschaftlichkeit und die Aussicht auf umweltfreundliche Einnahmen den Ausschlag für neue Investitionen geben. Pflanzliche Proteine – wie Burger aus Soja oder Erbsen – dürften in diesem Jahr gegenüber tierischen Proteinen die Preisparität erreichen. Und andere alternative Proteine, z.B. aus Mikroorganismen wie Pilzen, werden bis 20257 preislich gleichziehen.
Um diesen Trend zu beschleunigen, muss die gesamte Industrie zusammenarbeiten. Wir brauchen Unternehmenstransparenz zu den Emissionen im Lebensmittelsektor. Und als Anlegerinnen und Anleger müssen wir wissen, wie sich die Geschäftsmodelle entwickeln, damit wir gezielt investieren können.
Ausserdem ergeben sich Gelegenheiten in Form von Subventionen. Aktuell fliessen weltweit Gelder in Höhe von USD 500 Mrd. bis USD 700 Mrd. in den Agrarsektor. Einige davon laufen den Zielen zum Klimaschutz zuwider. Sie müssen neu ausgerichtet werden, um die Ziele der Regierungen zum Klimaschutz und zur Erhaltung der Biodiversität zu erreichen und die durch unsere schlechte Ernährung verursachten Kosten für die öffentliche Gesundheit zu senken.
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Da die Bevölkerung wächst, werden wir 25% mehr Menschen mit 20% weniger Land ernähren müssen“, so Kellers Schlussworte. „Nur, wie reisst man in einer USD 10 Bio. schweren Industrie das Ruder herum? Unseres Erachtens ist dies machbar. Und es ist zugleich eine immense Chance.“
1 Map of the Month: How Many People Work in Agriculture? - Resource Watch Blog
2 Small family farmers produce a third of the world’s food - World | ReliefWeb
3 Food Systems I Lombard Odier
4 Idem
5 Idem
6 Factsheet_SMALLHOLDERS.pdf (fao.org)
7 Food Systems I Lombard Odier
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