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    Eine Begegnung mit Lionel Naccache: von den Geheimnissen des Gehirns zum Investment Bias

    Eine Begegnung mit Lionel Naccache: von den Geheimnissen des Gehirns zum Investment Bias

    Am Rande einer Veranstaltung in Paris, bei der Lionel Naccache im Rahmen unserer Reihe LO Femmes* als Referent auftrat, hatten wir das Glück, einen anregenden Austausch mit ihm zu führen. Dabei erörterte er seinen wissenschaftlichen Blick auf die Elemente, die dazu beitragen, unsere Sicht der Welt zu gestalten: unsere Wahrnehmung des Geschlechts und unsere Fähigkeit, in die Zukunft zu blicken und zu investieren. All dies sind Themen, die unsere Investitionsbias beeinflussen.

    Die zentralen Themen, mit denen sich der angesehene Neurologe beschäftigt, sind Bewusstsein und Subjektivität. Für seine Arbeiten erhielt er jüngst zwei renommierte Preise. Lionel Naccache trägt so dazu bei, uns über Fragen aufzuklären, wie beispielsweise diese: Wie kommt es, dass ich die Welt auf diese Weise wahrnehme?

    Als leidenschaftlicher Hirnforscher ist es ihm ein Anliegen, seine Erfahrungen weiterzugeben und der Allgemeinheit bekannt zu machen. Damit möchte er uns dieses essenzielle und dennoch verkannte, ja geheimnisvolle Organ näherbringen.

     

    Glauben Sie als Spezialist für kognitive Neurowissenschaften, dass es geschlechtsspezifische Unterschiede gibt, die auf die Struktur unseres Gehirns zurückzuführen sind?

    Ich habe bei unseren Studien keine erheblichen Differenzen aufgrund des Geschlechts festgestellt. Damit ist nicht bewiesen, dass keine solchen existieren. Es zeigt aber, wie gering diese Unterschiede auf kognitiver und zerebraler Ebene sind. Die Architektur eines Gehirns ist bei beiden Geschlechtern gleich. Und ich wäre übrigens nicht imstande, anhand eines MRT-Bildes zu erkennen, ob es sich um das Gehirn eines Mannes oder einer Frau handelt! Natürlich haben wir alle Unterschiede auf kognitiver Ebene, aber diese sind eher psychologisch und kulturell bedingt, als dass sie auf die Struktur des Gehirns zurückzuführen wären. Diese soziokulturellen Differenzen sind oft von den Menschen selbst „internalisiert“, was sich übrigens auch in empirischen Tests nachweisen lässt.

     

    Haben Sie ein Beispiel hierfür?

    Ich denke hier an einen berühmten Test, der auf einer einfachen Übung basiert und mit Schülerinnen und Schülern durchgeführt wurde. Man zeigte ihnen die Rey-Osterrieth-Figur, die aus mehreren Quadraten, Kreisen, Dreiecken und anderen geometrischen Figuren zusammengesetzt ist. Und forderte sie auf, diese Figur anschliessend aus dem Gedächtnis nachzuzeichnen. Wenn man den Kindern sagt, dass es sich um eine Geometrieaufgabe handelt, schneiden die Mädchen weniger gut ab als die Jungen. Sagt man ihnen aber, dass es sich um eine Zeichenaufgabe handelt, erzielen die Mädchen bessere Ergebnisse als die Jungen, obwohl der Test genau derselbe ist! Dies macht deutlich, dass die Kinder bestimmte geschlechtsspezifische Stereotypen bereits verinnerlicht haben. Die schädlichsten und stärksten Voreingenommenheiten sind tatsächlich jene, die die Menschen selbst konstruierten, und die ihre Wahrnehmung prägen.

    Die schädlichsten und stärksten Voreingenommenheiten sind tatsächlich jene, die die Menschen selbst konstruierten, und die ihre Wahrnehmung prägen

    In Ihrem neuesten Buch, Le cinéma intérieur (Das Kopfkino), erklären Sie, wie wir alle unsere eigene Wahrnehmung konstruieren – sowohl der Welt um uns herum als auch von uns selbst. Was sind die wichtigsten Faktoren, die diese Wahrnehmung prägen? Persönliche Erfahrungen, die Erziehung, die Gesellschaft oder die Zeit, in der wir leben?

    Es gibt natürlich eine Vielzahl von Faktoren, die uns beeinflussen, von denen die meisten ohne unser Wissen, unbewusst ablaufen. Sie alle haben Auswirkungen darauf, wie wir die Realität und uns selbst interpretieren. Unser Gehirn produziert in jeder Situation unaufhörlich subjektive Bedeutungen. Diese bezeichne ich seit meinem 2006 veröffentlichten Essay mit dem Titel Le Nouvel Inconscient (Das neue Unbewusste) als „Fiktionen“. Dies nicht, um zu behaupten, dass sie zwingend falsch oder ungenau wären. Sondern ich möchte betonen, dass ihr Zweck eben gerade darin besteht, für den „Wirt“, der sie beherbergt und produziert, „einen Sinn herzustellen“. In dieser Hinsicht sind wir in der Tat Schöpfer von Fiktion. Dieser Grundgedanke ist heute zu einem Gemeinplatz geworden; denken wir nur an die Fiktionen, die uns am meisten am Herzen liegen – wie unser Gefühlsleben, Politik, Spiritualität usw. Tatsächlich handelt es sich jedoch um ein sehr elementares Bedürfnis unseres Gehirns, das ständig nach Sinn sucht, selbst wenn es nur einen einfachen Gegenstand sieht. All dies geschieht auf unbewusste Weise und erzeugt unsere eigene Interpretation der Welt. Mit anderen Worten: Dieses Kopfkino läuft permanent in uns ab, selbst bei den banalsten Handlungen des Alltags, und das Wissen darum ermöglicht es uns, den Quellen unserer komplexen Fiktionen auf die Spur zu kommen.

     

    Wo soll man anfangen, wenn man „den Film auswechseln“ und sein Kopfkino verändern will?

    Der erste Schritt besteht natürlich darin, sich bewusst zu werden, dass wir unsere eigenen Geschichten konstruieren. Wir müssen also lernen, uns selbst besser zu kennen und auf Abstand zu uns selbst zu gehen. Wenn es uns an Distanz mangelt, sehen wir nur das, was wir suchen und was mit unseren Interpretationen übereinstimmt, und übersehen alles andere. Wenn wir uns dessen bewusst werden, müssen wir allerdings aufpassen, nicht in eine Art „Vollrelativismus“ zu verfallen, indem man sich sagt, dass letztlich alles nur eine Interpretation ist. Denn man darf sich nicht täuschen lassen: Unsere persönliche Interpretation der Welt ist nicht nur individuell, sie ist Teil der Welt und verpflichtet uns, da sie unsere Handlungen leitet. Und wir wissen nur zu gut, dass der Mensch aufgrund einer Interpretation oder einer Überzeugung zum Besten wie zum Schlimmsten fähig ist.

    Lesen Sie auch (Artikel in Englisch): Women breaking barriers: deconstructing unconscious gender bias in wealth management

    Wie betrachten Sie denn in diesem Zusammenhang die Tätigkeit des Investierens mit Ihrem wissenschaftlichen Blick? Schliesslich bedeutet Investieren vor allem, die Zukunft vorwegnehmen zu können.

    Man muss zunächst verstehen, dass wir uns alle in einer Art „Raum-Zeit-Gefängnis“ befinden, nämlich in der Gegenwart – z.B. in dem Moment, in dem wir für dieses Interview miteinander sprechen, oder in der Gegenwart der Person, die diese Zeilen gerade liest. Unser Geist und unser Gehirn haben jedoch die Fähigkeit, sich aus dieser Gegenwart zu befreien. Das zerebrale System ermöglicht es nämlich, mehrere „Reisen“ zu unternehmen. Vielen Menschen mag es paradox erscheinen, dass das System, mit dem man sich in die Vergangenheit projizieren kann, genau dasselbe ist wie das, mit dem man sich in die Zukunft projizieren kann. Unsere Fähigkeit, in die Vergangenheit einzutauchen, bedingt somit unsere Fähigkeit, uns in die Zukunft zu projizieren. Es ist auch bekannt, dass die Art und Weise, wie wir die Vergangenheit oder die Zukunft sehen, nicht neutral ist: Wir werden von dem beeinflusst, was wir in der Gegenwart erleben. Deshalb können sich unsere Erinnerungen verändern. Und auch unsere Fähigkeit, in die Zukunft zu blicken, hängt von dem ab, was wir jetzt und heute erleben. Investitionen in die Zukunft sind demnach nicht nur von unserer Beziehung zur Vergangenheit beeinflusst, sondern auch von unserer momentanen Stimmung.

    Unsere Fähigkeit, in die Vergangenheit einzutauchen, bedingt somit unsere Fähigkeit, uns in die Zukunft zu projizieren

    Die Verhaltensökonomie erforscht die psychologischen Verzerrungen, die unsere Investitionsentscheidungen prägen. Anlegerinnen und Anleger, die ihre Portfolios zu oft durchsehen, haben z.B. eine viel höhere Wahrscheinlichkeit, Verluste zu erleiden oder unterdurchschnittlich abzuschneiden. Dies rührt von der „Illusion“ her, eine Situation unter Kontrolle zu haben. Was sagt Ihnen das?

    Das erinnert mich an die Arbeit von Daniel Kahneman, einer der Begründer der Verhaltensforschung in Bezug auf das Finanzwesen, und sein Buch Thinking, Fast and Slow. Dieses Buch fasst die wichtigsten Forschungsschwerpunkte dieses Nobelpreisträgers für Wirtschaftswissenschaften zusammen. Er hat sich unter anderem mit kognitiven Differenzen beschäftigt. Die zentrale These des Buches ist die Dichotomie zwischen zwei Denkweisen: System 1 ist schnell, instinktiv und emotional, während System 2 langsamer, überlegter und logischer ist. Beide haben ihre Vorteile und Schwächen. In diesem einfachen begrifflichen Rahmen entsprechen „kognitive Differenzen“ sogenannten Heuristiken; das sind schnelle automatische Lösungen von System 1. Sie kosten wenig geistige Anstrengung und treten in einem Kontext auf, in dem wir eher bewusst mit Anstrengung und Rationalität das Heft in die Hand nehmen sollten – das System 2. Daniel Kahneman entwickelt insbesondere die „Illusion des Verstehens“. Denn wir neigen dazu, rückblickend als offensichtlich zu betrachten, was in der Vergangenheit nicht offensichtlich war. Und im Nachhinein legen wir uns eine kohärente Geschichte zurecht. Die Illusion ist umso stärker, als Studien zeigen, dass sich Menschen später sogar einbilden, sie hätten geahnt, was geschehen würde. Auch hier wieder die Sinnsuche!

    Wir neigen dazu, rückblickend als offensichtlich zu betrachten, was in der Vergangenheit nicht offensichtlich war

    *Über LO Femmes

    Unser Netzwerk LO Femmes Paris entstand aus einer internen Initiative von Lombard Odier und hat zum Ziel, die Vermögensverwaltung für Frauen zugänglicher zu machen. Durch verschiedene thematische Veranstaltungen fördern wir den Wissensaustausch zu aktuellen Themen und erleichtern die Vernetzung und den Austausch. LO Femmes ist Teil des LO Women's Club, den wir 2016 innerhalb der Gruppe einführten.

     

    Lionel Naccache in wenigen Worten

    Lionel Naccache leitet die Abteilung für klinische Neurophysiologie am Hôpital Pitié-Salpêtrière AP-HP und hat einen Lehrstuhl als Professor für Neurologie an der Universität Sorbonne in Paris inne. Er ist Co-Direktor eines Forschungsteams am Institut du Cerveau und Mitglied des Comité Consultatif national d'Ethique (CCNE). Im Dezember 2021 erhielt er den Eloi-Collery-Preis 2021 der Académie de Médecine und den Grand Prix Claude Bernard der Stadt Paris für seine Arbeiten zum Thema Bewusstsein.

    Lionel Naccache, Autor mehrerer Bücher wie Le Nouvel Inconscient (Das neue Unterbewusstsein) oder des Bestsellers Parlez-vous cerveau? (Sprechen Sie Gehirn?), arbeitet weiter an einem Werk, das unsere Vorstellung von Subjektivität revolutioniert. In seinem neuesten Buch, Le Cinéma intérieur (Das Kopfkino), zeigt er einen völlig neuen Ansatz dessen, wie sich unsere Vorstellung von der Welt formt.

    Wichtige Hinweise.

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