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    Kapitalverbrechen: Auf das BIP und nicht auf den Wohlstand zu fokussieren, gefährdet unsere Zukunft

    Kapitalverbrechen: Auf das BIP und nicht auf den Wohlstand zu fokussieren, gefährdet unsere Zukunft
    Dimitri Zenghelis - Senior Visiting Fellow am Grantham Research Institute der London School of Economics and Political Science (LSE)

    Dimitri Zenghelis

    Senior Visiting Fellow am Grantham Research Institute der London School of Economics and Political Science (LSE)

    Die Wohlstandsbilanz unseres Planeten zu ignorieren oder zu vernachlässigen, ist sehr riskant. Um die Wirtschaft zu verstehen und Entscheidungsträger und Unternehmen über die Folgen ihrer Anlageentscheidungen zu informieren, ist es notwendig, den nationalen Wohlstand umfassend zu berechnen. Diese Berechnung kann als Leitlinie für zukunftsorientierte Geschäftspläne und als Absicherung für Wirtschaftsstrategien dienen. Auch kann sie herangezogen werden, um die vielen sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen zu bewältigen, mit denen wir konfrontiert sind. Sie ist dringend notwendig, um eine existenzielle Krise von der Welt abzuwenden.


    Höchste Zeit umzudenken

    Am 15. Februar sind schätzungsweise 30'000 Schüler in 50 Städten Europas dem Unterricht ferngeblieben. Sie protestierten gegen die politische Untätigkeit im Zusammenhang mit dem Klimawandel. Weitere Streiks sind geplant. Diese Kinder und Jugendlichen sind wütend – was verständlich ist. Denn dem Planeten, den wir ihnen hinterlassen werden, geht es schlecht. Ein oft übersehener, aber zentraler Grund dafür, dass wir den Planeten so vernachlässigen, ist, dass sich bei den politischen Entscheidungsträgern alles um die Einnahmen oder das BIP dreht.

    Unsere Lebensqualität hängt jedoch von mehr als nur vom Jahreseinkommen ab. Sie ist abhängig vom Zugang zu wichtigen Ressourcen.

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    Unsere Lebensqualität hängt jedoch von mehr als nur vom Jahreseinkommen ab. Sie ist abhängig vom Zugang zu wichtigen Ressourcen. Wenn Menschen ihren „Wohlstand“ beurteilen, denken sie an mehr als an das Einkommen einer bestimmten Periode. Sie denken an ihre Ersparnisse, Renten und an ihr persönliches Humankapital (also ihr Wissen) sowie an ihre Hypotheken, Schulden und Studienkredite. Und sie fragen sich, ob sie auch in Zukunft Zugang zu einem breiten Spektrum von Waren und Dienstleistungen haben werden und wie es in Zukunft zum Beispiel um ihren materiellen Konsum bestellt sein wird. Die Menschen machen sich Gedanken über ihren Zugang zu Chancen, zur Rechtsprechung und ob sie gegen die Risiken von Umwälzungen, Konflikten und Unsicherheit versichert sind. Die meisten Unternehmensführer denken an ihre Bilanzen, einschliesslich Schulden, Sachanlagen und immaterieller Vermögenswerte, die ausschlaggebend sind für ihre Fähigkeit, zukünftig Gewinne zu erzielen. Und die Anleger denken bei der Ausrichtung ihrer Portfolios an einträgliche Aktien.

    Die Wohlfahrt wächst nur dann, wenn sich der Zugang zu diesen Ressourcen verbessert. Wenn die Lebensqualität der jungen Menschen einmal so hoch sein soll wie jene, die für die letzten Generationen selbstverständlich war, muss der Wohlstand erhalten und ausgebaut werden. Wissenskapital wächst in der Regel, wenn wir lernen und innovativ sind. Der Wohlstand hängt jedoch auch von unserer Fähigkeit ab, in einer friedlichen und vertrauensvollen Gesellschaft zu leben, mit funktionsfähigen Institutionen, sicher vor Klimarisiken, mit intakten Ökosystemen, die verlässliche Ökosystemdienstleistungen generieren. Der Nettobarwert, der aus diesen Vorteilen resultiert, bestimmt unseren Wohlstand als Ganzes. Wir müssen uns zudem bewusst sein, dass nicht alle Ressourcen substituierbar sind. Die Ausschöpfung der natürlichen Ressourcen, wie die Abholzung im Amazonas oder das Massensterben von Fischen oder Insekten, kann nicht durch Produktions- und Humankapital ausgeglichen werden. Alle Studien zur Nachhaltigkeit müssen die Kapitalformen aufzeigen, die zum Wohle künftiger Generationen erhalten werden müssen. All dem trägt das BIP nicht Rechnung.

    Die Ausschöpfung der natürlichen Ressourcen, wie die Abholzung im Amazonas oder das Massensterben von Fischen oder Insekten, kann nicht durch Produktions- und Humankapital ausgeglichen werden.


    Auf das Nettovermögen achten – Wohlstand und Bilanzen

    Das BIP hat Vorteile. Es handelt sich um eine standardisierte, allgemein verständliche und häufig verwendete Grösse, welche die Produktions-, Einkommens- und Ausgabenströme im Zeitablauf und zwischen den Ländern misst. Eine vorausschauende Wirtschaftspolitik ist jedoch zunehmend darauf ausgerichtet, ein Portfolio von Ressourcen zu verwalten, auf das ein Land zugreifen kann, um sicherzustellen, dass seine Bürger auf unbestimmte Zeit davon profitieren.

    Die Messung des Wohlstands ist eine Voraussetzung für ein umfassenderes Verständnis der modernen Wirtschaft. Schwierige Herausforderungen – von der Bewältigung des Klimawandels bis hin zur Erklärung des „Produktivitätsparadoxons“, unter dem viele Industrieländer leiden – werden sich nur lösen lassen, wenn geeignete Informationen über Ressourcen, die für eine saubere Produktion notwendig sind, vorliegen. Die politische Bewältigung der Herausforderungen, denen wir uns infolge neuer Technologien wie künstliche Intelligenz, Big Data und Automatisierung gegenübersehen, wird nur mit Institutionen möglich sein, die in einem sich wandelnden Umfeld Voraussetzungen für Gewinner schaffen und die Verlierer absichern.

    Schwierige Herausforderungen – von der Bewältigung des Klimawandels bis hin zur Erklärung des „Produktivitätsparadoxons“, unter dem viele Industrieländer leiden – werden sich nur lösen lassen, wenn geeignete Informationen über Ressourcen, die für eine saubere Produktion notwendig sind, vorliegen.

    An der Cambridge University arbeite ich mit Kollegen an einem neuen Projekt, bei dem wir uns mit der Frage beschäftigen, wie wir den Übergang zu einer Welt schaffen, in der nicht nur das BIP zählt. Die Idee ist, das BIP schrittweise um ein kleines sogenanntes Dashboard zu ergänzen, in dem der Zugang zu wichtigen Ressourcen erfasst wird. Bei diesem Prozess spielt das neuseeländische Finanzministerium eine Pionierrolle. Zu den wichtigen Ressourcen gehören Produktions-, Natur- und Humankapital sowie intellektuelles, soziales und institutionelles Kapital und Finanzvermögen. Bei der Messung des wirtschaftlichen Erfolgs müssen wir diese verschiedenen wichtigen Ressourcen in einem Rahmen berücksichtigen, der unserer Vorstellung von Wohlstand besser entspricht. Damit wir die Frage beantworten können, welche Formen von Kapital zum Wohle zukünftiger Generationen erhalten werden müssen.


    Wohlstand setzt einen gesunden Planeten voraus

    Die Weltbank misst mittlerweile den „wahren Wohlstand“ der Nationen unter Berücksichtigung von Wirtschafts- und Naturkapital sowie „immateriellem“ Produktionskapital (das hauptsächlich aus Humankapital sowie sozialem und institutionellem Kapital besteht). Gemäss Schätzungen der Weltbank könnte das immaterielle Kapital in den meisten Industrieländern zwischen 60 % und 80 % des gesamten Wohlstands ausmachen. Wer dieses immense Potenzial ignoriert, handelt blindlings.

    Die Weltbank misst mittlerweile den „wahren Wohlstand“ der Nationen unter Berücksichtigung von Wirtschafts- und Naturkapital sowie „immateriellem“ Produktionskapital.

    Bei unserem Projekt in Cambridge konzentrieren wir uns zuerst auf das Sozial- und Naturkapital. Sozialkapital aus dem Grund, dass Querschnittsdaten bereits seit Langem zeigen, dass robustes Sozialkapital, das auf Vertrauen, zivilgesellschaftlichem Engagement und effektiven Institutionen basiert, mit wirtschaftlichem Wohlstand und Wirtschaftswachstum einhergeht. So hat beispielsweise eine einflussreiche Studie ergeben, dass bei einem moderaten Anstieg einer umfragebasierten Messgrösse für das Vertrauen auf Länderebene das Wirtschaftswachstum deutlich steigt. Eine weitere wegweisende Studie hat gezeigt, wie regionale Unterschiede im Sozialkapital (Umfang der Zusammenarbeit, Partizipation, sozialen Interaktion und des Vertrauens), die mehrere hundert Jahre zurückreichen, die funktionale Effizienz italienischer Städte und Regionen bestimmt haben.

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    Darüber hinaus ist ein BIP-Wachstum, das sich aus der Erschöpfung des Kapitals ergibt, nicht nachhaltig und beraubt zukünftige Generationen ihres Wohlstands. Deshalb ist es überaus wichtig, das Naturkapital zu messen. Das Naturkapital umfasst Wasser, Luft, Boden, Geologie und alle Lebewesen, denen wir die grundlegenden – und manchmal recht komplexen – Bausteine für alle anderen Kapitalformen verdanken. Das Naturkapital ist daher von existenzieller Bedeutung. Und es geht ihm schlecht. Dieter Helm, unabhängiger Vorsitzender des britischen Natural Capital Committee, behauptet, dass das spektakuläre Wirtschaftswachstum im zwanzigsten Jahrhundert auf Kosten der Umwelt erfolgt ist. Physisches Kapital sowie Human- und Wissenskapital können wachsen, was beim Naturkapital in der Regel nicht möglich ist. Das hat gravierende Folgen für unser Wohlergehen.

    Darüber hinaus ist ein BIP-Wachstum, das sich aus der Erschöpfung des Kapitals ergibt, nicht nachhaltig und beraubt zukünftige Generationen ihres Wohlstands. Deshalb ist es überaus wichtig, das Naturkapital zu messen.

    Wertversprechen

    Es ist nicht einfach, die Qualität der Statistiken und Informationen zu den uns zur Verfügung stehenden Ressourcen zu verbessern. Doch, selbst wenn wir bei der Entwicklung von Kennzahlen nur einen Teilerfolg verzeichnen (und uns bewusst sind, was noch fehlt), kann dies dazu beitragen, fundiertere politische und wirtschaftliche Entscheidungen zu treffen. Ein Problem ist, dass die Bewertung von Ressourcen im Gegensatz zu Waren und Dienstleistungen zukunftsorientiert und erwartungsbasiert sein muss. Deshalb lässt sich nie ein genauer Wert festlegen. Dies macht die Bewertung von Wohlstand volatiler, aber nicht weniger real. Am Morgen nach einem Börsencrash sind die Fabriken, der Grund und Boden sowie die Arbeitskräfte, die für die Produktion benötigt werden, nicht verschwunden. Aber die Erwartung in ihre Fähigkeit, künftig Gewinn zu generieren, ist gesunken.

    Doch gerade das zukunftsweisende Element macht den Wohlstand zu einem besseren Indikator für die Nachhaltigkeit und die Gesundheit einer Nation als die Jahresproduktion oder das BIP. Die Zukunft ist „eingepreist“. Da Erwartungen beeinflusst werden können, kann überdies eine glaubwürdige Führung und Innovation von Unternehmens- und Regierungsseite die reale Welt verändern: Wohlstand kann geschaffen oder zerstört werden, indem alte Verhaltensweisen, Technologien und Märkte durch neue ersetzt werden. Auch die Messung selbst kann die Wirtschaft prägen. Statistiken fungieren als Linse zur Beobachtung der Wirtschaft und der politischen Entscheidungsträger. Unternehmen und Privatpersonen wiederum verändern ihr Verhalten nach Massgabe dessen, was sie durch diese Linse sehen.

    Doch gerade das zukunftsweisende Element macht den Wohlstand zu einem besseren Indikator für die Nachhaltigkeit und die Gesundheit einer Nation als die Jahresproduktion oder das BIP. Die Zukunft ist „eingepreist“.

    Es ist Zeit zu handeln

    Junge Menschen haben eine Zukunftsvision, die politisch an Attraktivität gewinnen und für die Wirtschaft zunehmend profitabler werden wird. Um diese Vision umzusetzen, fordern jedoch protestierende Schüler und Anleger gleichermassen dringend, dass die nationalen statistischen Ämter umfassende Wohlstandszahlen erheben und zusammenstellen. Beispielsweise könnte die Schaffung einer Institution erwogen werden, die dem nationalen Parlament jedes Jahr über den Staat der Zukunft Bericht erstattet. Dabei würde sich diese Institution auf Wohlstandsrechnungen und Veränderungen der allgemeinen nationalen Wohlstandsbilanzen stützen. Dieses Vorgehen wird die Qualität der politischen Empfehlungen verbessern, die öffentliche Debatte beleben und die Diskussion in demokratischen Gremien anregen. Vor allem aber wird es Anlegern und Innovatoren letztlich ermöglichen, vom Schutz unseres Planeten zu profitieren und die sichere und nachhaltige Zukunft zu gestalten, die unsere Kinder fordern.


    Biografie

    Dimitri Zenghelis ist Senior Visiting Fellow am Grantham Research Institute der London School of Economics and Political Science (LSE), wo er von 2013 bis 2017 Head of Climate Policy war. Im Jahr 2014 war er als stellvertretender Chefökonom für die Global Commission on the Economy and Climate (auch bekannt als The New Climate Economy) tätig. Vor Kurzem war er Senior Economic Advisor der langfristigen Innovationsgruppe von Cisco und Associate Fellow am Royal Institute of International Affairs, Chatham House. Davor leitete er das Stern Review Team im Office of Climate Change, London, und war einer der Hauptautoren des Stern Review on the Economics of Climate Change (sogenannter Stern-Bericht), der von dem damaligen Schatzkanzler Gordon Brown in Auftrag gegeben wurde. Bevor er sich mit dem Klimawandel beschäftigte, arbeitete Dimitri Zenghelis beim britischen Finanzministerium, darunter vier Jahre als Head of Economic Forecasting, wo er Schatzkanzler Gordon Brown und Premierminister Tony Blair regelmässig Bericht erstattete. Derzeit berät er den Bürgermeister von London und das britische Committee on Climate Change.

    Bitte beachten Sie, dass Dimitri Zenghelis' Ansichten und Meinungen seinen eigenen sind und nicht unbedingt diejenigen der Lombard Odier Gruppe widerspiegeln.

    Wichtige Hinweise.

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