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Brexit nimmt Grossbritannien in den Würgegriff
Lombard Odier Private Bank
Vor gut zwei Jahren haben die Briten beschlossen, die Europäische Union zu verlassen. Damals erwarteten die Ökonomen einen «Brexit-Schock». Sie gingen davon aus, dass sowohl Investoren als auch Unternehmen das Land künftig meiden würden, das beschlossen hatte, den grössten Handelsblock der Welt zu verlassen – und dass dies der britischen Wirtschaft einen schweren Schlag versetzen würde. Der Schock blieb weitgehend aus. Stattdessen geht der britischen Wirtschaft langsam die Puste aus.
Politische Szenarien
Der Brexit setzt dem öffentlichen Leben Grossbritanniens immer mehr zu – und hat einen Parteienstreit der politischen Klasse entfacht. Gleichzeitig wertet das Pfund zunehmend ab, während die Unternehmen darum kämpfen, mit ihren nichtbritischen Konkurrenten Schritt zu halten.
Mitte Juli hat Premierministerin Theresa May ein Brexit-Weissbuch vorgelegt, das alle Beteiligten in Rage gebracht hat und auch bei EU-Chefverhandler Michel Barnier in einigen Kernpunkten auf Skepsis gestossen ist.
Angesichts der Schwierigkeiten, bei den eigenen Ministern eine Einigung zu erzielen, hat die Premierministerin nun ein Strategiepapier vorgelegt, das, so hofft sie, wie ein endgültiges Angebot anmutet. Allerdings wird jegliches Abkommen mit der EU unweigerlich weitere Zugeständnisse erfordern, weshalb neue Konflikte innerhalb Mays eigener konservativer Partei drohen. Daher wird die Premierministerin stärker auf die Unterstützung der Oppositionsparlamentarier angewiesen sein – zu einem Zeitpunkt, zu dem der Oppositionsführer der Labour-Partei, Jeremy Corbyn, ohnehin am liebsten Neuwahlen ausrufen würde.
Die Uhr tickt
Man darf bei alldem nicht vergessen, dass Grossbritannien enge Terminvorgaben zu erfüllen hat. Theresa Mays Vorschläge bilden den Ausgangspunkt für die Verhandlungen am 18. Oktober auf dem EU-Gipfel in Brüssel. Nur knapp sechs Monate später, am 29. März 2019 um 23 Uhr (britische Zeit), soll Grossbritannien die EU verlassen und in eine Übergangsphase eintreten, die im Dezember 2020 endet.
Wir sehen vier mögliche Szenarien:
- Theresa May überlebt das politische Gefecht in ihrer eigenen Partei und präsentiert auf dem Oktober-Gipfel einen «soften» Vorschlag – und bringt damit die Brexit-Hardliner gegen sich auf.
- May wird durch einen Brexit-Hardliner abgelöst, was allerdings weniger wahrscheinlich ist, falls versucht wird, einen «harten Brexit» über eine Abstimmung im Parlament zu erzwingen. Denn dieses hatte sich vor zwei Jahren mehrheitlich dafür ausgesprochen, in der EU zu bleiben.
- Die unwahrscheinlichste Variante ist eine allgemeine Neuwahl, mit der Aussicht auf eine neue Regierung unter Leitung des Parteivorsitzenden der Labour-Partei Jeremy Corbyn, dessen Ansichten über den Brexit nach wie vor undurchsichtig erscheinen.
- In der Tat macht es die stark gespaltene Debatte in Grossbritannien schwierig, sich vorzustellen, wie das Parlament eine Brexit-Einigung erzielen soll. Daher ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass letztlich überhaupt keine Einigung zustande kommt.
Falls sich dieses vierte Szenario bewahrheitet, ist häufig die Rede von einem Einschreiten der Welthandelsorganisation (WTO). Als letzter Ausweg könnte auf die WTO-Regeln zurückgegriffen werden, was neue Komplexitäten in Form einer Ausgliederung der bestehenden EU-Quoten und globale Bemühungen um einen Konsens mit sich bringen würde1. Wohlwollend ausgedrückt, ist es nicht übertrieben zu behaupten, dass sich die politische Landschaft Grossbritanniens neu ausrichtet – und dabei die wirtschaftlichen Perspektiven des Landes aufs Spiel setzt. Weniger wohlwollend ausgedrückt, kann man feststellen: Es herrscht absolutes Chaos.
Das erklärt, warum seit einiger Zeit ein zweites Referendum über den Brexit-Kurs diskutiert wird. Den am 27. Juli veröffentlichten aktuellen Umfragen des Meinungsforschungsinstituts YouGov zufolge befürwortet erstmals eine Mehrheit eine neue Abstimmung2. Dabei ist schwer einzuschätzen, wie sich die öffentliche Meinung in Grossbritannien bis dahin entwickeln wird.
Enttäuschende Daten
Einer der Gründe für diese Unsicherheit ist die Tatsache, dass sich die schlechtesten Prognosen für die Wirtschaft nach dem Referendum nicht bewahrheitet haben. So warnte beispielsweise der Internationale Währungsfonds wenige Tage vor dem Referendum 2016 vor einem Börsencrash und einem Einbruch des Bruttoinlandsprodukts bis 2019 um 5,5 %. Gleichzeitig erwartete das britische Finanzministerium einen «unmittelbaren und tiefen Schock», der das Land in eine jahrelange Rezession abrutschen lassen würde. Aber was hat sich davon in den letzten beiden Jahren letztlich bewahrheitet?
Ein Lichtblick ist die positive Entwicklung des FTSE 100 Index, der die grössten britischen Aktiengesellschaften umfasst. Allerdings ist die Performance grösstenteils Währungseffekten geschuldet. Seit dem Referendum ist das Pfund Sterling sowohl gegenüber dem Euro als auch gegenüber dem US-Dollar um mehr als 13 % eingebrochen. Die Währungsschwäche – bedingt durch die Unsicherheiten, die der Brexit mit sich bringt, und, in jüngster Zeit, zusätzlich durch den starken Dollar – hat britische Blue Chips gestützt. Denn diese machen gerade mal 19 % ihres Umsatzes innerhalb Grossbritanniens (siehe Grafik).
Unserer Ansicht nach ist der weitere Rückhalt für britische Aktien begrenzt. Denn das Pfund nähert sich einem Kurs, in den bereits ein hohes Brexit-Risiko eingepreist ist. Wir glauben, dass die britische Währung durchaus von derzeit etwa 1,30 noch auf 1,20 US-Dollar fallen könnte – aber kaum mehr. Unsere Dreimonats- und Zwölfmonatsprognosen für den GBP/USD-Kurs liegen bei 1,29 bzw. 1,33. Beim EUR/GBP-Währungspaar gehen wir in diesen Zeiträumen hingegen von einer stabilen Entwicklung um den aktuellen Wert von 0,89 herum aus.
Sollten die Brexit-Verhandlungen tatsächlich scheitern, würde das die britische Währung unweigerlich weiter nach unten reissen. Auch wenn wir nicht damit rechnen, sollte dieses Szenario aufgrund seiner wirtschaftlichen Folgen ernst genommen werden.
Gesamtwirtschaftlich beträgt das jährliche Wachstum des britischen Bruttoinlandsprodukts seit Juni 2016 durchschnittlich 1,6 % –gegenüber 2,2 % in der Eurozone und 2,1 % in den USA (siehe Grafik). Gleichzeitig ist die Arbeitslosenquote in Grossbritannien seit 2016 weiter auf 4,2 %3 gesunken, wohingegen der Langfristtrend beim Lohnwachstum anhaltend schwach ist4. Ferner gibt es kaum Anzeichen dafür, dass für die seit Langem bestehenden Produktivitätsprobleme des Landes eine Lösung in Sicht wäre – denn diese ist immer noch niedriger als bei den wichtigsten europäischen Wettbewerbern5.
Eine wichtige Stütze für die Wirtschaft war die bislang lockere Geldpolitik der britischen Notenbank (BoE). Diese könnte allerdings allmählich schwinden, da die Währungshüter ihre nach der Krise ergriffenen Stützungsmassnahmen beenden und zudem am 2. August den Leitzins um 25 Basispunkte auf 0,75 % und damit den höchsten Stand seit 2009 erhöht haben.
Diese Entscheidung wird weithin als «gemässigt» gewertet, da die BoE den Zins lediglich geringfügig angehoben und gleichzeitig signalisiert hat, dass vorerst nicht mit einer weiteren Anhebung zu rechnen ist. Zugleich warnte die BoE davor, dass die Wirtschaft «in erheblichem Masse von der Reaktion der Haushalte, Unternehmen und Finanzmärkte auf die Entwicklungen im Zusammenhang mit dem Ausstieg aus der EU beeinflusst werden könnte».
Stand der Dinge
Grossbritannien befindet sich in einem politischen Vakuum, während sich gleichzeitig seine Konjunktur abkühlt. Tatsächlich besteht wenig Handlungsspielraum, wenn solch enorme Veränderungen die politische Landschaft beherrschen. May hat das bisschen politische Kapital, das ihr noch blieb, verspielt, indem sie über ein feindselig gesinntes Parlament hinweg einen Kompromiss erzwungen hat. Die nächsten Monate werden deshalb nicht nur über die politische Zukunft der Premierministerin, sondern über den weiteren Weg ganz Grossbritanniens entscheiden. Denn eine fragile Strategie für den Ausstieg aus der EU wird unvermeidlich weitere Kompromisse erfordern.
Möglicherweise wird der politischen Klasse Grossbritanniens und einem Teil der Bevölkerung allmählich klar, dass die Machtverhältnisse bei den EU-Verhandlungen nicht zu Gunsten ihres Landes liegen – was im Übrigen auch früher eher selten der Fall war. Diese Fehleinschätzung, die zur Folge hat, dass das Land einen mächtigen Nachbarn und Verbündeten verliert und es stattdessen künftig einem mächtigen Konkurrenten gegenübersteht, schnürt der britischen Regierung und der britischen Wirtschaft zunehmend die Luft ab.
1 http://ukandeu.ac.uk/wp-content/uploads/2017/09/No-Deal-The-WTO-Option-Fact-sheet.pdf
2 https://yougov.co.uk/news/2018/07/27/first-time-more-people-support-second-referendum/
3 https://www.ons.gov.uk/employmentandlabourmarket/peoplenotinwork/unemployment/timeseries/mgsx/lms
4 https://www.ft.com/content/c4437c9e-7ec4-11e8-bc55-50daf11b720d
5 https://www.ons.gov.uk/economy/economicoutputandproductivity/productivitymeasures
Wichtige Hinweise.
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